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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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sie letztendlich hergaben. Celebration of Weltschmerz, ja, ja. Aber der junge Mann von nebenan brachte Hoffnung in mein Leben.
    ***
    Der Herbst verging mit dem Verwelken der Dinge, dem ausdruckslosen und alljährlich wiederholten Rückzug der Natur. Es roch nach dem kalten Absterben der Sachen, die einen umgaben; was fruchtlos war, würde auch die nächste Zeit über fruchtlos bleiben. Wenn das Universum sich schlafen legt und der Mensch aber wach bleiben muss, das sind schlimme und zumeist kompensationsunfähige Momente.
    Über Nacht war eine Art spröder Winter in die Landschaft eingedrungen, aber kein weißer, verstörend schöner, sondern ein komplett kompetenz- und farbloser. Ein Arbeiterwinter, kein Modewinter. Es war einfach nur klirrend kalt geworden; in den Wohnungen hielt man sich aus einem gewissen Schutzbedürfnis auf, das einem sein eigener Körper mitteilte, der immer meint, dass eine warme Umgebung einer kalten vorzuziehen sei. Täglich aber wagte ich mich hinaus in diese Kälte, um meinen Arbeitsvertrag zu erfüllen. Das Verkaufen von Büchern hatte viel Raum in meinem Leben eingenommen, und ich wusste keinerlei Strategie, wie ich mir diesen zurückerobern konnte und ob es das überhaupt wert war, sich in diesen Kampf einzulassen. Was konnte ich denn sonst noch so außer Buchladen. Ich war ein eingestürztes Haus, unter dessen Trümmern viele Talente begraben lagen, aber weil Krieg war, machte sich niemand daran, diese Trümmer beiseitezuschaffen, um diese Talente zu retten, zu reanimieren oder erst mal überhaupt zu entdecken. Und ich selbst hatte dafür keine Zeit und kein geeignetes Werkzeug.
    Der kleine Buchladen. Unendliche Weiten, vermutete Tiefen. Und alles begann wie immer, hatte also irgendeinen Anfang und schlich sich als Strich durch die Zeit. So ein Arbeitstag, den man sich im Koordinatensystem vorstellt, ist immer irgendwo knapp über der Nulllinie des Lebens angesiedelt.
    Irgendetwas hielt mich wach an so einem Arbeitstag und irgendwann erkannte ich, dass es mein Pflichtbewusstsein war. Das hatte ich von meiner Mutter, eine schon zu Lebzeiten vererbte Eigenschaft, die an mir klebte wie ausgerotzter Kaugummi an einem Turnschuh. Nur das Bewusstsein, einen Arbeitsvertrag zu haben, mit dem Geld, das man heimträgt, um sich die Berechtigung für die Bewohnung eines Hausteiles zu sichern, um in diesem Hausteil zu kochen, zu ficken, fernzusehen und irgendwann abgeholt zu werden, von wem auch immer. Diese Perspektive galt doch für den ganzen erbärmlichen Mittelstand, dessen Teil ich geworden war. Der Blick auf mein Leben glich häufig dem Blick eines Einhandseglers bei Windstille mitten auf dem Ozean. Da trieb ich dahin und wartete auf stürmische Böen, auf Bewegung im Universum. Warten ist die kleine Schwester von Sterben, wurde mir da immer mehr und immer wieder bewusst.
    Wäre so ein Tag ein kleiner zugelaufener Hund, man fände ihn zunächst mal süß und würde ihn auch gern behalten wollen. Dann würde der Tag die ersten Ansprüche anmelden und man würde dann schnellstens viele Gründe für seine Gefährlichkeit erfinden, um ihn loszuwerden und im Heim abzugeben. «Hier, dieser Tag ist gefährlich, er erzeugt Depressionen und trinkt das Mitgefühl aus einem raus, sodass man letzten Endes nur noch funktionieren kann und nur noch als Menschenattrappe irgendwo rumsteht. Bitte nehmen Sie ihn und sperren Sie das Mistding ein.» Und irgendein Typ würde wie im Neuen Testament sagen: «Fick dich, der Stall ist voll.» Und man hätte ihn am Arsch, den Tag, und man würde sich daran gewöhnen, aber wirklich lieben könnte man ihn nicht.
    Der Tag schleppte sich dahin und zog mich wie einen alten Rollkoffer hinter sich her. Manchmal wurde der Untergrund, über den mich der Tag zog, recht uneben, aber wir erreichten unser Ziel, ich und der Tag. Aber etwas zerschlissen sah ich am Ende aus. Die beschissene Zerschlissenheit, die einem ein Tag wie dieser antun kann, und das obwohl er, der Tag, offensichtlich gar nichts vorhat mit einem, nicht mit Besonderheiten aufwartet. Die Zeit auf dem Elektroherd der Ewigkeit kocht auf Sparflamme, wird langsam garer, je näher ein Abend kommt und sich selbst einleitet.
    Es stellten sich ja immer viele Hindernisse anekdotengleich in mein Tagesgeschäft, die meisten Hindernisse bestanden aus Menschen, deren Unverständnis eine tiefe, schier unendliche Fallgrube zu sein schien. Solcherlei Menschen waren auch meist mit Ideologien gesegnet, die ihre eigene Welt

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