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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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fröhliches Stück war es diesmal, das Nachbar Kai dort performte, eins, das Tanzen machen wollte, aber auch Gehör forderte durch viele melodiöse Umbrüche. Aber es blieb immer gleichbleibend rasant, und ich stellte mir zehn Finger vor, die von einem zugeknallten Gehirn bedient werden und im Rausch über Tasten rutschen und eigentlich Konzerthallen füllen müssten, aber hier in kleinen Mietwohnungen gefangen gehalten werden. Viele Genies verstauben einfach unter den Umständen ihres Nichtentdecktwerdens. Aber wer machte sich schon die Mühe, jemanden wie Kai zu entstauben.
    Den nächsten Schritten durch den Flur, die ich fast zärtlich und bedächtig auf den Industriefußboden setzte, wohnte der Gedanke inne, was mich an einem solchen Abend letztendlich erwartete. Das Woody-Allen-Buch, das ich nicht mochte, konnte ich noch fast als kulturelles und gefühlsprovozierendes Highlight werten. Jetzt bloß nicht allein sein mit mir. Muss ja. Wollte nicht immer der sein, der abgewrackt Heimkommende, der vor dem Fernseher Wegdösende, der vor YouPorn Onanierende, der ewig in sich selbst eingesperrte Romantikgutfinder bleiben. Weg, raus. Meine Muss-ja-Muster wollte ich zerbrechen, den Weg durch irgendwas gehen, mir unbekannte Phänomene begucken, aber: Stillstand. Mein Kopf war ein Minenfeld mit mehr Ideen als Ambitionen darin. Kais Klavier verstummte plötzlich.
    Wahrlich, da wohnte etwas in ihm, was geniale Züge hatte. Erst kürzlich hatte ich ihn unterhemd- und jogginghosenbekleidet im Hausflur gesehen, wie er da so die Treppe runtertrabte, alle Eleganz vermeidend, die ein Mensch haben konnte, und in der Hand stinkenden Biomüll, bestehend aus Essensresten und unzähligen Kaffeefiltern. Aber wenn man ihn so sah, dann wusste man doch, dass da irgendwas in ihm schlummerte, was genial anmutete.
    Seine Tür öffnete sich. Ich erschrak, weil ich nicht auf sozialen Kontakt eingestellt war. Innerlich wünschte ich mir aber schon welchen. Kais wirr blickende Augen sahen zunächst an mir vorbei, um dann direkt in meinem Antlitz zu landen. Die Flugbahn seiner Blicke war eine beängstigend kuriose, aber letztendlich traf er mich. «Sieh an, der Nachbar», raunzte er, und ich wusste, dass auch er sich mein Gesicht gemerkt hatte. Ich hob leicht die Hand zum Gruß, wirkte wie ein schüchterner Schuljunge mit mehr Minderwertigkeit als Komplexen und sagte: «Hallo, hab dich grad wieder spielen gehört. Gefällt mir übrigens sehr gut, was du da machst.» Kai grinste. «Danke, Mann, ich übe halt. Nicht alle hier im Haus sehen das so wie du. Letztens war der Kemper von unten links da ...» «Der mit dem komischen Pseudofrühlingsgestrüppkranz vor der Tür?» Kai nickte. «Genau der. Der kam letztens hoch und hat sich über meinen Lärm beschwert, ich hab ihn wohl während ’ner Volksmusiksendung mit experimenteller Klassik genervt.» Ich kannte diesen Kemper nicht, konnte mir aber vorstellen, was hinter der Haustür, die wie die seine aussah, abgehen konnte. Da war alles drin, von Verwandtenvergewaltigung bis Altnaziasyl. Dieser Kemper spielte sich wohl gern als gutes, gesundes, deutsches Gewissen auf. «Der Typ ist echt seltsam», gab ich schüchtern zu Protokoll. Ich fühlte mich selbst wie ein seltsamer Typ, Kai bestimmt nicht, für ihn schien seine Art von Seltsamkeit eine Art Privileg zu sein, der Schlüssel zu seiner Eigentlichkeit. «Ey, weil ich dich immer zur Toleranz gegenüber meiner selbstgemachten Musik zwinge, hast vielleicht Lust auf’n Bier? Wein hab ich auch.» Auch in dieser Frage wohnte irgendetwas, was Seltsamkeit transportierte.
    Ich checkte noch kurz innerlich meine Optionen für den weiteren Verlauf des Abends, wie gesagt, ein halbgarer Woody Allen wartete auf mich und ein jämmerliches Ichselbst vor dem Computerbildschirm, das mir verpixelte Titten preisgab, mit dem Schwanz in der Hand die sexuellen Funktionen meines Körpers austestend. «Sicher.» Ich folgte Kai in seine Wohnung. Ich freute mich unanständig auf diesen neuen Eindruck, den ich mir schon in meiner Fantasie in giftgrüngrauen schimmelpilzartigen Farben auscoloriert hatte.
    Kai lief vor mir in die Dunkelheit seiner Dreizimmerwohnung. Zunächst fiel mir ein Geruch auf, den Gemüse macht, wenn man es zu irgendwo zu lange stehen lässt. Es stank nicht wirklich, war auch nicht unangenehm, aber präsent, eben raumfüllend. Und umspielte schummerige Dunkelheit, als ich Kai durch seinen chaotisch vollgestellten Flur in sein Wohnzimmer folgte. Ich sah

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