Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
verkomplizierten sowie das soziale Miteinander mit ihrer Umwelt manchmal zur Unmöglichkeit erklärten.
Claudia stand neben mir hinter dem Kassentresen und packte mit zärtlichen Fingerbewegungen eine Jubiläumsausgabe von Brecht in blaues Geschenkpapier ein, und ich freute mich für den Beschenkten. Frau Braun war irgendwo in der Nähe des Philosophieregals untergetaucht und streichelte emotionslos, aber mit einer gewissen Nachhaltigkeit Jean-Paul-Sartre-Buchrücken. Sie lächelte. Ich sah sie nur ab und an aus dem Augenwinkel durch die Gänge huschen, ein flinkes Schleichen war ihre Gangart. Wie eine Gazelle, die Menschen wittert.
Eine Frau in ungefähr meinem Alter kam an den Tresen, an jeder Hand hatte sie ein steifes Kind. Den Kindern merkte man die Kälte an, die da draußen herrschte, ein wenig aber auch die, die sie bereits von Menschen erfahren hatten. Die Frau hielt einen Jungen von ungefähr zehn Jahren und ein kleines, zerrüttetes Mädchending, das vielleicht fünf war, an der Hand. Die Frau trug lange, blonde, ungepflegte Haare, Wanderstiefel, die etwas Baumstammiges hatten und einen blauen Anorak, der wirkte, als hätte er seine Bestimmung als Kleidungsstück nie akzeptiert und wäre lieber ein Vorhang oder Bettwäsche geworden. Den Anorak trug die Frau offen, darunter eine Art Hemdkleid, das sich vorgenommen hatte, sexuelle Gelüste seiner Trägerin zur Unmöglichkeit zu erklären, und darunter trug sie keinen BH, das sah ich deutlich, denn als sich die Frau vor mir aufbaute, um mir ihr Begehren vorzutragen, gondelten ihre Brüste wie zickige Ponystuten unter ihrem Kleid umher. Die Frau sah aus wie eine, die einen ökologischen way of life einem geradlinigen Weg durch die Leidenslandschaft des Kapitalismus vorzog.
So wirkten auch die beiden Kinder. Das Mädchen war ebenfalls in einen Fetzen gewandet, der so bunt und kindlich war, dass es fast schon wieder süß in seiner Ungepflegtheit aussah. Der Junge trug Jeans und Pullover, markenunbewusst, und war daher wahrscheinlich ein leicht verkloppbares Opfer in der weiterführenden Schule. Ich konnte mir vorstellen, wie dieser Junge allein auf dem Pausenhof abhing, unter Tränen sein stinkendes und viel zu trockenes Vollkornroggenbrot mit Tofu und Salat runterwürgte und ab und zu, wie aus dem Nichts heraus, einfach so von den «coolen Jungs» in den Dreck gestoßen wurde. Einfach nur, weil es ging, weil auf seiner Stirn «Opfer» in großen Neonleuchtbuchstaben stand. Ich begann Mitgefühl zu entwickeln mit diesem Jungen, obwohl ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte, aber die ökologische Dominanz, die ihm vollwertpädagogisch mitgeteilt wurde, schien für ihn ein Lebensweg zu sein, der über Tofubrote direkt in den Amoklauf führte. Das zumindest las ich in seinem unbeteiligten und irgendwie mit Fremd- und Eigenscham besetzten Gesicht. Seine Schwester konnte noch nichts ausdrücken außer kindlich verspielte Fröhlichkeit. «Ist das eine Energiesparlampe», fragte mich die Mutter und deutete auf das glimmende Licht, das man vom Tresen aus hinten im Büro leuchten sehen konnte. «Na klar», antwortete ich geistesgegenwärtig, um Diskussionen mit der Fundamentalistin vor mir im Keim zu ersticken. «Wie schön, so ist das richtig», sagte sie tonlos und doch irgendwie mit misstrauischem Nachklang, um dann ihren Wunsch kundzutun: «Ich brauche für den Justin-Gerd das Mathebuch fürs Gymnasium für die fünfte Klasse.»
Ich würde jeden Schuss, den Justin-Gerd demnächst aus einer Pumpgun auf seine Mutter abfeuern würde, verstehen und gutheißen. Wahrscheinlich würde er ohnehin freigesprochen werden. Allein die Namensgebung roch nach Freispruch nach bewiesenem Axtmord. Ich erkundigte mich nach der ISBN, und das Hippiegerümpel wurde nervös und ihre Brüste waren wieder lebendige Ponys, die auf einer Wiese das verspielte Dilemma ihrer vertanen Existenz zelebrierten. «Es gibt ungefähr 347 Titel für Mathematik in der fünften Klasse, ich bräuchte schon etwas konkretere Angaben», klärte ich sie auf. Die Frau im blauen Kleid wandte sich an ihren Sohn, die kleine Tochter wohnte der Tragödie stumm bei. «Justin-Gerd, hast du denn nicht aufgepasst, als Herr Lohgoff euch die Buchliste diktiert hat?» Justin-Gerd schwieg, wahrscheinlich aus Angst, die Ponys würden ihn gleich anfallen. «Also ohne ISBN kann ich nichts bestellen, tut mir leid», versuchte ich den kurzen Weg durch die Beratung zu gehen. Justin-Gerd stand stumm da, wie eine kleine Pflanze,
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