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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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die nur aus Schuld bestand und mit noch mehr Schuld gedüngt wurde, und ich sah minimalistische Nuancen von Wahnsinn in seinen Augen glänzen, konnte aber auch die Verzweiflung sein, dieser Szenerie so hilflos ausgeliefert zu sein. «Und du erkundigst dich dann morgen schnell nach der ISBN bei Herrn Lohgoff», befahl ihm seine Mutter, sein kleines, meditatives Schweigen unterbrechend. Dann legte die überforderte Ponybändigerin noch ein Kinderbuch mit dem Thema Wassersparen auf den Tresen, und das kleine Mädchen lächelte und sagte: «Das ist für mich.» Ich lächelte zurück, Justin-Gerd und seine Mutter schauten jeweils ernst in verschiedene Richtungen, und irgendwann schaute dann Justin-Gerd auf Claudia, als sie unter dem Tresen nach Katalogen suchte, wofür sie sich leicht bücken musste. Ihr Dekolleté trug Claudia heute recht offenherzig zur Schau, ihre offensichtliche Weiblichkeit drängte sich an die Oberfläche von Justin-Gerds Wahrnehmung. Auch ihre Hose umspannte ihren Po, was sich sehr zum demonstrativen Vorteil ihres Sitzorganes auswirkte, und zeichnete diesen deutlich in die Gegenwart des Jungen. Das schien ihn zu interessieren und er erkannte, dass es neben seiner Mutter auch noch Frauen mit so was wie Ausstrahlung gab. Sein Blick fixierte Claudias Rundungen, wahrscheinlich weichte gerade seine heile Welt mit diesem Blickkontakt auf, und er bemerkte, dass Sexualität und Eleganz nicht nur Wörter, sondern auch füllbare Gefäße waren. Claudia war so ein Gefäß, und Justin-Gerd vertiefte sich in seine Betrachtung. Nachdem seine Mutter das Geschäft mit dem ökologisch-pädagogischen Bilderbuch zum Thema Wassersparen mit mir abgewickelt hatte, erkannte sie den interessierten Blick ihres Sohnes, der auf den weiblichen Eigenschaften Claudias ruhte. «Johanna-Gala, Justin-Gerd, wir gehen», durchbrach sie den ruhigen Blick ihres Sprösslings, und der war plötzlich wieder das Opfer ihrer Methoden und Stimmungen und demzufolge in der pädagogischen Vorhölle gefangen. Johanna-Gala, Justin-Gerd und ihre Ponymutter verließen den Buchladen, und ich konnte mir vorstellen, dass der Sohn sich wohl noch zu Hause einen feministischen Aufklärungsaufsatz anhören musste, der das Starren auf Körperteile mit sexuellem Missbrauch gleichsetzte. Immer weiter Wasser auf die Schuldmühlen, dachte ich, und ich glaubte auch, dass seine Waffe schon geladen war, und wünschte ihm viel Glück auf seinem Weg Richtung Befreiung.
    Ich dachte an meine eigene Mutter und an meine eigene Unfreiheit, ihr gedanklich, emotional oder sonst wie zu entkommen. Ich dachte also daran, die Gedanken von dieser Frau zu lösen und selbst in meiner Generation aufzusteigen, also dahin zu gehen, wo man unabhängig von diesen Sohngefühlen ist, sondern selbst gottvatergleich emporschwebt auf das nächste Level dieses gottlosen Lebens. Einfach ein wenig aufwärts, Richtung irgendwas, ich wusste doch, dass da was war, irgendwo in den Zwischenräumen dieser aufgeräumten Städte, deren Häuser wie Grabsteine wirkten, irgendwo da musste doch noch etwas Leben sein. Ein paar Gramm zumindest, die ich einsaugen könnte, um wieder so was wie Menschlichkeit zu empfinden.
    Ich fühlte mich wie auf einer ewigen Exkursion, immer nur war da die Fahrt, aber nie war da ein Ziel. Über Ziele, also erreichbare und unerreichbare, dachte ich zwar viel nach, aber immer befand ich mich nur auf dem Weg dahin, und diesen Weg musste ich mir frei hacken mit meiner simplen genetischen und sonstigen Ausstattung, die mir anvertraut worden war. Menschsein war gewisserweise wie das Einbetoniertsein unter einem großen bedrohlichen Etwas, das langsam auf einen fiel. Jeder kannte das Ende. Das sah überall gleich aus, dieses Ende, und die einen strampelten mit ihren Beinchen, bis diese brachen, obwohl sie wussten, dass sie möglichkeitenlos erschlagen wurden, und dann gab es auch welche, die warteten einfach, bis sie erschlagen wurden, begrüßten fallende Betonteile wie alte Freunde und akzeptierten ihr Verblühen. Und ich wusste immer noch nicht, ob ich laufen oder stehen bleiben sollte.
    Wie Grabsteine also standen da die Häuser, wie Friedhofsbesucher wirkten die Lebenden. Und die Gassen und die Straßen waren voller drängelnder und sloganartig brüllender Unfugmenschen, die alle irgendwie kreuz und quer aufgestellt die Wege zum Glück und zur Erkenntnis blockierten und so ihre und meine Zeit durch pseudomenschlichen Aktionismus verschleuderten. Ja, Aktionismus war ihnen

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