Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
in Gang käme, um etwaige Fühlbarkeiten auszuchecken. Ich hatte über ein Jahr nicht geweint; ich wünschte, ich könnte es, die ganze Trauersuppe laufen lassen, meinen Alltag damit ausspülen, das müsste reinigend wirken. Aber es kam nichts, die Trauer versteckte sich in mir und dachte nicht daran, sich in Tränen zu offenbaren. Still saß ich da, leichter Wind glitt wie ein bekiffter Surfer durch die Leere, fast unbewegt gähnte die Atmosphäre. Ich fühlte mich wie in einem ewigen Herbst gefangen.
Ich glaube, Kai war nicht zu Hause, ich hörte keinen Laut aus seiner Wohnung. Ich war jetzt auch seit einigen Wochen nicht mehr bei ihm gewesen. Die letzten Abende, die ich bei ihm verbracht hatte, waren immer mehr geprägt gewesen von einer außerordentlichen Zueinanderfindung. Allerdings benötigten wir immer weniger des Klebstoffs Alkohol, der uns bei unserer ersten Begegnung aneinandergefesselt hatte und dies auch nachhaltig tat. Es war ein gutes Gefühl, jemanden wie Kai nebenan zu wissen, also jemanden, der einen mit Flaschen voller alkoholhaltiger Erfrischungsgetränke sowie einem Mund voller guter Worte, als auch mit einem Kopf voller einfühlsamer Gedanken begrüßen konnte. Bei Kai war es die Kombination aus diesen Zutaten, die mich mindestens zwei Mal wöchentlich in seine Wohnung trieb. Was blieb mir auch? Hier wartete niemand auf mich. Die Leere meines eigenen aufgeräumten Lebens tauschte ich nur herzlich gern gegen die Fülle und Fruchtbarkeit seiner Künstlerexistenz ein. Und ich fühlte mich hier wertgeschätzt. Der Buchhändler mit der sich auflösenden Mutter, das war ich, mehr ging manchmal nicht, mehr Gehalt hatte meine kleine Existenz an vielen Tagen nicht.
Gestern Abend hatte er wohl erneut Besuch gehabt. Aber es war nicht wie sonst. Keine Musik, auf die keinerlei verbal sexuelle Lautoffenbarung folgte, sondern ich wurde lediglich Zeuge einer langsam anschwellenden und schlussendlich eskalierenden Unterhaltung zwischen einer fremden Frau und Kai. Die Frau brüllte böse Wörter, sie schrie, wie jemand schreit, der sich von irgendetwas lösen möchte, sie brüllte, wie wenn man an etwas festgeklebt war, und im gleichen Moment an dem Ort, an dem man festklebte, eine Gefahr vermutete. So schrie diese Frau, und Kais Stimme war eher ein Kontrapunkt in diesem unnachvollziehbaren Dialog, denn sie vermittelte Ruhe und Gelassenheit, fast eine Weinerlichkeit. Die Wände hier waren von einer schalldurchlässigen Dünnheit. Ich konnte aber lediglich die Tonlagen und Lautstärken der beiden erkennen, nicht den Inhalt des Gesprächs nachvollziehen. Vielleicht sollte ich Kai danach fragen.
Ich hatte schon so lange nicht mehr so was wie einen besten Freund, und vielleicht war ich mit Kai auf dem Weg, so etwas wie Freundschaft hinzubekommen; ich glaube nämlich, dass wir da auf einem guten Weg waren, den ich gern Stück für Stück weiter mit ihm gehen wollte. Ich war dazu bereit. Freundschaften, genau wie Beziehungen zu Frauen, waren für mich immer ein Phänomen mit begrenzter Haltbarkeit, das irgendwann entsorgt werden musste, weil es entweder nicht mehr zu halten war oder derart gefühllos vonstatten ging, dass sich ein Handlungszwang in Form einer Trennung ergeben musste.
Ich dachte an Schmidt. Dieser Typ war mein bester Freund, als ich ungefähr siebzehn Jahre alt war. Und er war so eine Art Augenöffner für spätere Kontakte.
***
Damals gab es einen heißen Sommer nach dem anderen, als ich siebzehn war. Ich weiß noch, dass es dieser spezielle Sommer mit einer schwer zu atmenden Luft war, irgendwas brannte ständig in meiner Lunge. Außerdem hatte ich zu rauchen begonnen, was auch in meiner Lunge brannte, mich aber auf wundersame Weise vom gesundheitsbewussten Restvolk um mich herum distanzierte. Gesundheitsunbewusst, so dehnten sich die Tage der Jugend aus.
Ich war aber immer noch ein kleines Pflänzchen, ein orientierungslos aus der Erde ragender neugieriger Grashalm, der den Wind mochte, der aber in seinem eigenen Dreck so stark verwurzelt war, dass er unfähig war, sich einfach wegwehen zu lassen.
Ich war viel allein zu der Zeit; irgendwie war ich nicht imstande, die Leute, die mit mir zur Schule gingen, an mich zu binden, zufriedenstellende freundschaftliche Verhältnisse hinzubekommen. Sie verschwanden aus meinem Leben, ich hatte mit mir selbst zu tun. Ich war dabei, erwachsen zu werden. Ich hing sehr oft meinen Gedanken nach, schrieb darüber verstörende Gedichte, die mich selbst
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