Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
erschraken, und mein Kopf war ein besetztes Haus und die Autonomen darin hörten auf die Namen Verzweiflung, Widerstand, Machtlosigkeit und unbedingter Wille zum Ausbruch. Flugunfähiger Vogel Jugend. Welche Richtung ich diesem Ausbruch aber geben sollte, war mir bis dato noch nicht klar. So blieb ich ein kleines Häufchen Unentschlossenheit, das sich den Fügungen des Schicksals zu überantworten hatte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Realschullaufbahn erfolgreich beendet und einen Ausbildungsberuf begonnen. Da ich mich schon immer schwer mit zukunftsweisenden Entscheidungen getan hatte und ich nur einige Dinge wusste, die ich nicht wollte (zum Beispiel müde und schmutzig nach Hause zu kommen, mit verwundeten Händen und stinkend, so wie mein Vater, der als KFZ-Mechaniker arbeitete), bewarb ich mich relativ planlos und unbewusst auf kaufmännische Lehrstellen. Bürokaufmann, Industriekaufmann, Kaufmann im Groß- und Außenhandel, die Auswahl war so erdrückend wie vielfältig. Mit diesen Berufsbildern assoziierte ich ungefährliche und saubere Arbeitsplätze. Meine Welt war klein, überschaubar und an jedes Schwarz grenzte ein Weiß, daher war das Gegenteil eines schmutzig machenden Freiluftarbeitsplatz irgendwas in irgendeinem Büro zu sortieren oder zu stapeln und in endloser Wichtigkeit irgendwelche Zettel zu beschriften oder mit Stempeln zu versehen. Das alles schien eine Übersichtlichkeit zu haben, eine, die ich in meiner gewöhnlichen Existenz vermisste.
Das Empfinden von Spaß stellte ich selbst viel zu oft in den Hintergrund, denn meine Mutter übte großen Druck auf mich aus, ich solle mich um einen Ausbildungsberuf kümmern und diesen auch gefälligst zu Ende bringen. Als ob sie irgendetwas von meinem Unterbewusstsein geahnt hätte. Die Jahre der Pubertät hatten mich von meiner Mutter derart entfremdet, dass ich kaum mehr diese Sohngefühle spürte. Jeder von uns machte sein Ding und Kontakt war uns beiden unlieb; ihr wohnte stets diese Hysterie inne und sie flippte regelmäßig aus, auch bei Lappalien. Jeder Kontakt zwischen meiner Mutter und mir entsprach einem negativen Reiz, jedes Wort, das wir sprachen, war zu dieser Zeit eine Art spätpubertärer Brandsatz, in allem vermutete ich eine Provokation. Meinem Vater waren viele meiner jugendlichen Regungen schlichtweg egal, er war der typische dauerübermüdete Arbeiter, der emotional erkältet und distanziert von der Umwelt in seiner eigenen Gedankensuppe zu Hause war und nie Verbote aussprach, das überließ er meiner Mutter. Daher manifestierte sich meine Haltung gegenüber meinem bürgerlichen Elternhaus in schlichter Ablehnung. Leicht paranoid, dieses Denken, aber ich fühlte mich von dieser Frau, die mich geboren hatte, derart belästigt, dass ich mich immer weniger in meinem Elternhaus aufhielt. Meine Mutter prügelte verbal auf mich ein, um im Anschluss daran auf irgendwelche Hemden einzubügeln. Ihr Haushalt hatte eine sonderbare und einnehmende Priorität, ich hatte in diesen Gefilden nichts verloren, also suchte ich da auch nichts.
Ich bekam also irgendwann eine Zusage bezüglich einer Ausbildungsstelle zum Bürokaufmann, und zwar in einem Elektrogroß- und -einzelhandel. Es war ein kleines mittelständisches Familienunternehmen mit standardisierten Abläufen. Dort war es meine Aufgabe, die Buchführung zu machen, Materialien für das damals schon unzeitgemäß große Lager zu bestellen und auch mit Kunden in Kontakt zu treten, die im Einzelhandelsladen diverse Elektroartikel oder Installationszubehör kaufen wollten. Der Job machte von Anfang an keinen Spaß, aber Spaß war, wie bereits erwähnt, nicht der Antrieb, um diese Ausbildung zu beenden, sondern es bildete sich ein Wille zur unbedingten Unabhängigkeit bezüglich familiärer Zwänge heraus. Ich wollte so schnell wie möglich ausziehen, eine eigene Wohnung haben, mir ein Leben finanzieren, dessen Richtung ich selbst steuern konnte. Meine Mutter aber mischte sich in viele Angelegenheiten ein, die ich von ihr entfernt selbst beurteilen und einschätzen wollte. Ich wollte die eigene brennende Erfahrung, auch wenn sie in Schmerz enden würde. Ich wusste, dass es so was wie Leidenschaft gab, und kannte mich in meinen Gedanken damals noch gut aus und glaubte zu wissen, was für ein Leben nötig wäre, damit eben solche Leidenschaft stattfände. Stattdessen baute meine Mutter um mich eine Entscheidungsfestung, die ich unbedingt durchbrechen musste, wenn ich erstens nicht verrückt
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