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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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schlurfend, Opfer der Empfindsamkeit des Lebens, der ausdrücklichen Eindrücke, die Leben aus mir rausstanzten, wenn sie auf meinen Körper trafen. Kleine Punkte Leben werden mit jeder Situation, vor der man hilflos sitzt oder steht, einfach unwiederbringlich rausgeknüppelt vom Faustschlag der Vergänglichkeit. Das sind Zellen, die nie nachwachsen, da bleiben kleine empfindliche Löcher. Und dann liegt man da und man ist erschüttert, geschüttelt vom eigenen Leben, das man nicht so einfach loswird. Also abwarten.
    Ich lag irgendwann auf meinem Bett und in mir war da so eine entsetzliche Müdigkeit. Ich dachte Kreise aus Möglichkeiten, aber es waren Kreise, die, wenn sie zu Ende gedacht waren, wieder aus einem Ende einen Anfang machten. Aus der Nebenwohnung hörte ich, wie Kai sein Klavier und später dann eine unbekannte, aber enthusiastische Frau liebte. Jeder betäubt sich eben anders, dachte ich so bei mir, jeder hat so seinen Weg, seiner Empfindlichkeit irgendwie aus dem Weg zu gehen, wenn sie einen bedroht und einem die eigene Existenz kleindrücken will. Jedem sein Weg, und meiner führte durch ein Gewächshaus mit Schlingpflanzen, die kaum einen Weg erkennen ließen; irgendwo erzählte meine Mutter was, irgendwo umarmte mein Vater eine fremde Frau, irgendwo leuchteten Bücher in den Händen von Frau Braun und Claudia, irgendwo spielte ein Verrückter Klavier, um sich danach mit einem Frauenkörper zu vereinigen, und irgendwo im Zentrum dieses Gewächshauses fügte sich alles zusammen, da kamen alle Pflanzen zusammen, verknoteten sich, und in dieser Mitte, in dieser absoluten Innerlichkeit stand ich und konnte fühlen, wie sich um meinen Hals eine Schlinge, getarnt als harmlose Schlingpflanze, zuzog. Ich hatte immensen Bedarf nach Atemluft und stand noch mal auf. Irgendetwas fehlte. Vielleicht auch irgendjemand.
    Rauchend auf dem Balkon, die kalte klare Nacht inhalierend, bei Kai war es mittlerweile still geworden. Niemand musizierte oder hatte Sex. Lediglich Stille. Es war einer dieser stillen Augenblicke, die so leise waren, dass man ganz nah bei sich selbst sein konnte. Das Innere verschwamm mit dem Äußeren und man wurde eine Pfütze Emotionen, die undeutlich und schwammig herumsuppte, und man rauchte auf Balkonen, sah sich die Nacht an, dachte beim Betrachten der nackten Nacht an Ewigkeit und wusste doch: Vergänglichkeit ist ein Schienensystem ohne Bahnhöfe. Eine Seltsamkeit erdrückte die Welt, es war eine, die ich kannte, es war eine Seltsamkeit, die zu viel von mir wollte. Ich gab dem Zuviel in mir ein Zuhause, und ich war kein guter Vermieter, ich wollte, dass das Zuviel ein Genaurichtig wurde, und ich kannte den Weg noch nicht. Aber vorerst musste ich akzeptieren, dass dieses Leben so war, ein vergifteter Fluss, der aus der Quelle der simplen Eigenwahrnehmung entsprang und hinunterfloss zum Meer der Ungewissheit ...
    ***
    Später Nachmittag und sehr frühe frühlingshafte Sonnenstrahlen fielen einfach so vom Himmel. Die paar Bäume, die sich vor meinem Haus aufhielten, standen da wie eine coole Jugendgang, regungslos standen sie da, als ob sie wüssten, was so ging, und als würden sie ihre Parkplatzcredibility auschecken. So standen sie da, die Bäume, und verhielten sich wie Menschen mit windstillem Willen.
    Ich saß auf meinem Balkon, es war ein Sonntag, bei meiner Mutter war ich schon gewesen. Sie hatte während meines ganzen Besuchs geschlafen, und ich hatte ihr ein wenig erzählt, wie es mir denn so ergangen war. Ganz leise und klein war ich neben ihrem Bett, hatte mich da hingesetzt, ihre Ausdruckslosigkeit angestarrt. Ganz minimal hatte sie ihre Augen unter den erschöpften Lidern bewegt, als ob ein Traum ihre völlige Hingabe beanspruchte. Vielleicht sehen Sterbende auch ganz tolle Filme im Kopf, von denen sie aber niemandem erzählen können, weil ihr Körper Kontaktaufnahme zur Außenwelt nicht mehr zulässt. Vielleicht sieht ein Sterbender auch das Sterben selbst schon vor seinem geistigen Auge. Mag ja sein, dass meine Mutter in ihrem Kopf schon beerdigt wurde, nur ihr realer Körper war noch hier. Vielleicht hindere ich sie am Sterben. Konnte ja sein, dass meine regelmäßigen Besuche lediglich eine Struktur aufrechterhielten, die schon lange nicht mehr notwendig war. Aber ich konnte meine Mutter nicht einfach so loslassen, sie einfach so gehenlassen. Der Tod war immer noch weit weg, obwohl die mir präsentierte Realität eine ganz andere und vor allem unmissverständliche Sprache

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