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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Hinterreifen drehte sich noch, und Schläge und Tritte von zweien der drei sausten nieder, immer wieder in den dicken Leib. Blastbeat as Blastbeat can . Einer stand nur daneben, der kleine Araber im No-Name-Trainingsanzug, und guckte sich das Spektakel an, und da kreuzte auch schon sein Blick den meinen und ich sah, wie sich kleine Tränen in seinen Augen sammelten, und er schaute schnell wieder weg, seine Körperhaltung war der Versuch, trotz Unbehagens eine grazile Coolness darzustellen, und das gelang ihm nur bedingt. Er war kein Schläger wie seine Freunde, er hatte Mitgefühl, vor allem mit sich selbst, und die Situation wuchs weiter über seinen Kopf und begrub ihn unter einer Radladerschaufel voller Mutterboden.
    Die durch das Busfenster gedämpften Schreie des am Boden liegenden, zitternden, dicken Mädchens hörten bald einfach auf und wichen einem stummen Wimmern. Das war nicht zu hören, dieses Wimmern, aber die Bearbeitung der beiden Jungs war von professioneller Eigenart, danach konnte nur ein Wimmern aus dem Mädchen kommen, ein Wimmern und plumpes, rotes Mädchenblut. Nichts passte mehr zusammen in ihrem Gesicht, nichts war mehr an seinem Platz. Erschrocken starrte ich auf diese Massakerszene.
    Empathie halte ich für eine nicht angeborene menschliche Fähigkeit aus Fremdschmerz Eigenschmerz, oder vielleicht in gedämpfter Form, Eigenscham oder -schande zu empfinden. Ich glaube, diese Fähigkeit wird stufenweise gelernt, so wie laufen oder sprechen. Babys weinen, wenn andere Babys weinen, es ist so eine Art Reflex, der immer weiter verbessert und immer mehr konkretisiert wird. Wenn was falsch läuft in einer sozialen Begegnung und man nicht lernt, wie Empathie sich anfühlt, dann ist man, so glaube ich, imstande Körper umzugestalten und ebenso in ihrer Konsistenz zu verändern. Das mir vor Augen geführte Beispiel alltäglicher menschlicher Grausamkeit vollzog sich in computerspielartigem Tempo, ein Rausch aus Gewalt und der Stummheit des Ertragens ebenjener Gewalt. Ein Wimmern ...
    Einige Leute hatten angehalten, Passanten passierten und schwiegen lange Sätze über kopfschüttelnde Moral. Entsetzte Augen sahen zu, begutachteten Opfer und Täter, auch der Busfahrer sah die Bluttat, die sich nun auch in einer roten Pfütze um das Mädchen manifestierte, und fuhr weiter. Ich saß im Bus, schaute aus dem Fenster auf das Mädchen, das nur noch zuckte, und neben mir saßen Unfähigkeit und Hilflosigkeit, und die beiden kopulierten und daraus wuchs ein Wesen, das sich neben mir in den Sitz presste und mich zu würgen begann. Es hatte starke Hände, dieses Wesen, die sich um meinen Hals legten, um dort die Luftzufuhr zum Gehirn zu unterbrechen. Das fühlte sich wie mit dem Ziel gesegnet an, nur die Gedanken, die da jetzt im Kopf waren, drin zu lassen, da drin verfaulen zu lassen, bis es grün und bunt gärte, auf dass der Seuchenkopf endlich abfiele. Das dachte ich, und wir fuhren weiter durch die Zugebautheit dieser Straßen, der Zugebautheit des Seins, die Unmöglichkeit der Zerstreuung, den Willen zum Schreien und doch die absolute Unfähigkeit zu dieser Handlung, weil da Hände waren, die Hände eines Wesens, das mich mit sich vergiften wollte und mich würgte. Ich sah die Jungs noch rennen, sich schnell in alle Richtungen verteilen, nachdem sie zugeschlagen und zugetreten hatten, und endlich kamen auch welche, die sich zu dem wimmernden Mädchen hinunterbeugten.
    Still. Still. Still. Stirb still. Das Wesen drückte mich in den Sitz, der Bus fuhr fast geräuschlos und die Stille in mir, so unglaublich laut, diese Stille, sie schrie mich aus all meinen Poren an. Da war irgendwas aus Mitgefühl, was zu viel war, die Überdosis Empfindung, Mädchenblut auf dem Asphalt der Zugebautheit, und die kleinen Tränen im Auge des Betrachters, der nicht mitschlagen wollte; all das hielt mich jetzt hier fest, die Eindrücke drückten mich tief ins Sitzkissen und weglaufen würde eh nichts bringen. Wovor auch und vor allem: wohin? Der Beigeschmack meiner eigenen hilflosen Unfähigkeit, irgendwie auf Gesehenes zu reagieren, machte diesen Bewusstseinscocktail ungenießbar. Aber ausspucken konnte ich ihn auch nicht ...
    Ich war an meiner Haltestelle, draußen wie drinnen eine feuchte Kälte, eine Hilflosigkeit, ein Gedankensumpf, in den ich eingesackt war. Ich entstieg betäubt dem Bus, einige Schritte waren zu gehen. Wie immer. Immer wieder. Schritte. Schritte, wie von selbst. Ich ging nicht, es ging mich, passiv

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