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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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verfielen anschließend sofort in Lobeshymnen über den nicht nachzuahmenden Jello-Biafra-typischen Gesangsstil, und dass eine Band wie die Kennedys als nicht zu covern gelten sollte.
    Anschließend gaben wir, in einer abgeschiedenen Ecke des Clubs herumlungernd, unseren Köpfen und Körpern, wonach sie verlangten. Endlos viele Zigaretten wurden während einer berauschenden und beschleunigenden Mischung aus Bier, Wodka und kulturell wertvollem Gesprächsstoff verstoffwechselt. Nebenbei inhalierten wir gegenseitig unsere Gedanken, und es war ein Festival der emotional angereicherten positivsten Besoffenheit. Schmidt bot dann noch einige Joints feil, und wir taumelten einander in die Arme, als ob wir seit Ewigkeiten befreundet wären. Da wusste ich, dass ich einen besonderen Menschen kennengelernt hatte. Wir wirkten an diesem Abend wie zwei Jungs, die sich ihre Lieblingsplatten vorspielen.
    Ich sah Schmidt dann öfter, wir verabredeten uns für Konzerte und Demos, und ich ließ mich in seine revolutionäre Aura fallen. Es wurde immer persönlicher. Er erzählte viel von seiner Familie und von seiner Punkwerdung. Diese beiden Aspekte in seinem Leben gingen nämlich nebeneinander spazieren. Schmidt war der älteste von sechs Geschwistern, sein Vater war arbeitsloser Alkoholiker und seine Mutter unlängst an bösartigen Tumoren verreckt. Sein Schicksal öffnete in seiner Tiefe bei mir viele emotionale Schleusen. Das war fast das komplette Gegenteil meines überbehüteten Einzelkinddaseins. Häufig verstörte mich die Grobheit Schmidts, doch ich kannte ja die Hintergründe. Wer mit fünf Jahren drei Tage lang im Keller eingesperrt worden war und nur durch Verdroschenwerden durch die väterliche Hand Sozialkontakte bekommen hatte, der konnte auch werden wie Schmidt. Ihm nahm ich als Einzigem das revolutionäre Gebaren ab, das er an den Tag legte, der Rest der Meute aus dem Club waren nur aufgepumpte und von Punkfachbekleidungsgeschäften ausgestattete Schauspieler, das war in vielen Gesprächen zu erkennen.
    Schmidt und ich wurden richtig gute Freunde, zunächst zelebrierten wir lediglich unsere Freitagssessions, dann wurde uns das zu wenig. Ich wusste, dass meine Mutter diesen stadtbekannten Gesindelpunk nicht in ihr Heileweltbild passen lassen konnte. Als sie uns mal irgendwo zusammen mit einer Weinflasche lauthals philosophierend auf einer stillgelegten Bushaltestellenbank sitzen sah, sprach sie mich einige Stunden später, als ich wieder zu Hause war, darauf an, dass so ein Schmidt-Kontakt wohl der Untergang jedweden Sozialaufstiegs sei. Sie hielt ihn für abgestandenen Abschaum, unfähig einen Waschlappen zu benutzen, und das lediglich, weil sie seine Familie kannte, eine Familie, die nur jemanden wie Schmidt hervorbringen konnte. Schmidt war Realismus und meine Mutter verweigerte ihr Verständnis für die Wahrheit unserer Freundschaft. Meine Mutter war voller Angst, dass dieser Schmidt in mein Leben dergestalt eingreifen könnte, dass auch ich in Bälde den Asozialen angehören würde. Es war aber überwiegend eine Angst vor den Augen der Nachbarn und der Bekannten in der Stadt, mit angekratzter Oberfläche bestehen zu können. Wer mit Schmidt-Leuten abhängt, der ist selbst der Asozialen einer, so schief dachte meine Mutter. Ich dachte: Von der Mutter sozialisiert und von Jugenderfahrungen asozialisiert zu werden würde mich schon zu dem machen, was ich denn eigentlich zu sein strebte. Obwohl der Mensch, der ich zu sein strebte, in keiner konkreten Vorstellung vorkam; da waren immer nur zufällige Bilder, die wie Kinder, die sich verlaufen hatten, orientierungslos in meinem Kopf kreisten.
    Irgendwann stand Schmidt dann bei uns vor der Haustür, und meine Mutter öffnete und sah diesen heruntergekommenen Sack Restmensch in seinen konformitätsverweigernden Anziehsachen. Konfrontativ baute er sich vor ihr auf und seine Kleidung war mehr kaputt als vorhanden. Seinen Iro hatte er heute nicht aufgestellt, die roten Spackhaare klebten leblos an seinem Schädel. Er rauchte und lächelte und fragte, ob ich denn wohl da sei. Meine Mutter schrie auf und schlug Schmidt die Tür vor dem Zigaretten beherbergenden Gesicht zu und rief nach mir. Wieder einer dieser quälenden hysterischen Anfälle. Ich stand auf dem Treppenabsatz des Obergeschosses meines Elternhauses und hatte gesehen, wie meine Mutter Schmidt behandelt hatte, und spürte sofort wieder dieses mir zugemutete Unrecht und die Verweigerung von zugemuteten Erfahrungen,

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