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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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sprach. Hier, in der Realität nämlich, die sich manchmal nicht nur hier , sondern auch jetzt nannte, war meine Mutter eine Art Bettlaken. Sie hatte sogar eine ähnliche Farbe. Ein halb totgepflegtes Chamäleon war sie, hatte sich dem Pflegebett angepasst, sich als Bettwäsche getarnt, vielleicht auch aus dem Grund, weil sie demnächst abgezogen werden wollte, um bei 90 Grad im Schleudergang der irdischen Existenz zu entkommen. Die ganz simple Zerrüttungstaktik. Gedanken, die einen auf den Boden drücken wie durchgeknallte 80er-Jahre-Wrestler in neongelben Turnanzügen.
    Da war ja nun auch dieser Schlauch, der Schlauch, der an meiner Mutter festgemacht war und durch den sie durch die Bauchdecke ernährt wurde. Der Schlauch hing an einer Art Stativ, an dem oben eine Flasche festgemacht war, auf der eiweißreich, ballaststoffreich, normokalorisch, bei niedrigem Energiebedar f stand. Die Flasche war durchsichtig und gab den Blick auf eine graue, zähe Flüssigkeit frei, die wie Hoffnungslosigkeit aussah. Wenn man dieses zähe Grau einmal in sich gelassen hatte, so stellte ich mir vor, dann war man komplett ausbetoniert, gefühlsminimiert und abflugbereit für weitere Vorkommnisse im Restleben. Aber ein kleiner Teil in mir kämpfte gegen das Zulassen dieser Realität, schließlich lag da meine Mutter und die Flüssigkeit tröpfelte in sie hinein, und ich versuchte noch einmal nachzuempfinden, wie es war, als sie mich umarmt, als sie meinem damals kindlichen Körper alle ihr zur Verfügung stehende Liebe vermacht hatte. Dafür fasste ich mich selbst an, meine Arme umschlangen mich und ich wiegte mich ein wenig hin und her. Meine Mutter schnarchte derweil, todesnah und friedlich. Aber ich konnte einen Fetzen dieses Gefühls zurückbekommen. Ganz klein war das Gefühl und ganz kurz war es ebenso; aber ich hatte ihn irgendwo in mir gespeichert, diesen minimalistischen Mutterliebekomplex, der mich mit ihr verband.
    Die rhythmische Hoffnungslosigkeit der tröpfelnden enteralen Ernährung zerfräste aber ziemlich schnell meine Gedanken an das Gewesene, an die ausgesendete Liebe, und da war dann wieder die Realität und in dieser wurde meine Mutter von innen zubetoniert mit Flüssigkeit, die von sich behauptete eiweißreich, ballaststoffreich und normokalorisch zu sein. Ich glaubte der Flüssigkeit alle diese Eigenschaften; sie tröpfelte auch allzu stur, als dass ich mich mit ihr auf etwaige Diskussionen eingelassen hätte. Sie war halt einfach da, füllte meine Mutter mit Restleben, und ich stand daneben und war ein wartender Sohn, einer, der nur warten konnte, und ich sprach ein wenig in die Stille hinein, fasste meine Mutter dabei an der Hand an, die war ganz kalt, die Hand, und rau war sie auch. Ich steckte ihre Hand zu ihr unter die Bettdecke, vielleicht auch, um sie etwas länger als nur zehn Sekunden berühren zu können. Ihre Augen blieben geschlossen und meine Mutter hatte keine Außenwelt mehr. Ich hoffte, dass da drin, in meiner Mutter, Sachen stattfanden, die sie gut fand, vielleicht ein Waldspaziergang mit Vogelstimmenanalyse, vielleicht sogar mein Vater oder eventuell ich. Also, die Stimmung von Liebe, die sollte sie bitte behalten dürfen, wenn ihr schon das meiste durch Gehirnversprudelung genommen worden war.
    Außerdem erfuhr ich, dass Frau Bender gestorben war. Kein «... wota, wota äh ...» mehr. Das war bis zuletzt ihr Kampfschrei, der ihr Aufbegehren gegen den Tod symbolisiert hatte, vielleicht war es auch das einzige Merkmal, das sie von einer Toten unterschieden hatte. Seht her, sie spricht, also lebt sie. «... wota, wota äh ...» Und dann verschwand das Leben durch ein geöffnetes Fenster oder durch die Vordertür. Frau Benders Zimmer war jedoch schon wieder belegt, aber mit jemand Leisem, Sprachlosem, ebenso Dahinvegetierendem.
    Ich saß auf meinem Balkon, rauchte. Leichter Wind, fast unbewegt die Atmosphäre. Passte gut zu dieser fest definierten Welt, diese unbewegte Atmosphäre. Sie schenkte mir Sekunden voller Stillstand, machte das ganze Denken so unbeweglich, das Fühlen ohnehin, und irgendwann spürte man nicht mal mehr Schmerz, der mit gewaltbereiten, geballten Fäusten anklopfte, weil man so totgestillstandet war, und diese minimalen Injektionen Zufriedenheit, die man sich immer selbst einbildete, wenn das Realbild der Welt undurchschaubar wurde, diese Zufriedenheit machte Zementseele. Ich rauchte bewusst, dachte, dass vielleicht dadurch, also durch diesen spürbaren Prozess, wieder was

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