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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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werden wollte und zweitens ein selbstständiges Leben mein eigen nennen wollte.
    Weil ich viel allein war und trotzdem nichts verpassen wollte, was zu einer radikal durchlebten Jugend gehörte, ging ich oft allein aus. Ich hatte mir angewöhnt an Freitagabenden erst in meinem Zimmer zu wilder Metalmusik, vorzugsweise von Kreator, Sepultura und AC/DC, Alkohol zu trinken, um dann mit dem Nachtbus in die nächste größere Stadt zu fahren. Dort ging ich in einen Alternativ-Club, wo sie allfreitaglich eine gesunde Mischung aus Wave, Punk, Hardcore und diversen Spielarten des Heavy Metal zustande brachten. Diese Musikmixtur prägte mein inneres Reifen, mein bloßes Heranwachsen wurde kombiniert mit gesellschaftskritischen Texten und rumpeligem, unterkühltem und bewusst brutalem Soundtrack. In diesem Club tanzte, soff und rauchte ich mir die Einsamkeit aus dem Körper. Optisch war ich ja nie der typische Szenegänger, aber auch dieser Umstand reizte mich und offenbarte mir meine eigene Besonderheit. Als Normaler unter Besonderen ist man ja wieder der Besondere. Und so war ich allfreitaglich der besonders normale Besondere.
    Die Welt im Club war immer eine sehr laute. Dunkel und morbide träufelten die Nächte dahin, manchmal aber auch rasant. Es gab Nächte, da war ich außerstande, meine eigenen Gedanken zu verstehen, aber was wollten auch Gedanken in meinem Kopf, wenn nebenan auf dem Dancefloor gerade Bands wie Napalm Death oder Obiturary in Flugzeugstartlautstärke gespielt wurden. Da gehörten keine Gedanken hin. Sie waren zwar da, die Gedanken, wirkten aber eher wie ein Makel.
    Schnell lernte ich auf dieser oberflächlichen Basis Menschen kennen, größtenteils hielten sich hier Punks, Hardcoretypen und Metaller auf, und irgendwann hatte ich feste Ansprechpartner. Irgendwie hatten hier alle Anwesenden eine gesellschaftliche Randposition inne, die sie durch ihr Herkommen auch noch manifestierten. Einige Leute waren aber, trotz geringen Alters, schon kognitiv zu früh abgebogen, dass heißt, man konnte wunderbar erkennen, dass ihnen ihr Istzustand ausreichte, um für den Rest ihrer Existenz so etwas wie angedeutetes Glück zu verspüren. Ich hingegen war da sehr zurückhaltend, denn wenn ich Glück wollte, dann solches, das mich zum Explodieren bringen sollte. Ich versteckte meine Emotionalität absichtlich, weil ich keinen Grund kannte, was diese Menschen hier mit meinen Gefühlen veranstalten sollten. Deswegen schloss ich emotionale Teilhabe aus und spielte, ja war gar der coole Unnahbare.
    Oder aber, ich lebte meine Gefühle beim Pogo auf der Tanzfläche aus. Ich hatte Wut und Güte und Liebe und ich hatte an Abenden wie diesen einen alkoholisch beeinflussten Körper, der sich elegant von seiner Gehirnsteuerung lösen konnte und im Tanzgebaren dann ausschließlich Leib war. Ich ließ meine Körperlichkeit durch die Nächte rocken, trank, sang und liebte mich in der Rolle des normalen Besonderen. Als solcher fand ich hier die nötige Akzeptanz. Das waren hier keine Freundschaften, sondern nur an Subkultur und dazugehörige Rauscherzeugnisse gebundene Zweck- und Dreckgemeinschaften, die lediglich zum Ziel hatten, diese beschleunigten Nächte mit so was wie Randkommunikation zu füllen.
    An einem Freitag lernte ich durch meine spontanen und sporadischen Freunde Schmidt kennen. Schmidt war Punk und das mit intelligenter und trotzdem klischeebeladener Leidenschaft. Von dürrer Gestalt, auf seinem kleinen Kopf ein obligatorischer roter Iro, so stellte er ein ausgehungertes Wesen voller Leidenschaft dar. Ihn umgab eine Aura, die sehr schwer zu fassen war. Einerseits war er eine Chaos verströmende Kaputtheit, andererseits sah man an seinen kindlich blitzenden Augen seine Jungenhaftigkeit, die auch mit massivem Alkoholkonsum nicht klein zu saufen war. Schmidt, den echt alle nur Schmidt nannten, weil das so was wie ein Szenename war, stand in irgendeiner Nacht am Rand der Tanzfläche plötzlich neben mir, guckte öffentlich unloyal und kredenzte mir auf einmal eine Zigarette, die ich dankend annahm. Als er mir Feuer gab, beschwerte er sich im gleichen Atemzug über die Musik des Abends. «Alles zu lau hier, zu unpolitisch, zu kosmisch falsch irgendwie», lallte er in meine Richtung, und dann erzählte er mir von seiner Vorliebe für die Band Dead Kennedys und lobte deren politischen Aktivismus und Sarkasmus, mit dem sie Anfang der 80er neue Maßstäbe setzten. Die Dead Kennedys waren mir natürlich ein Begriff, und wir

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