Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
schreiend lachen oder in Literaturdiskussionen nicht nichts sagen wollen und dadurch blöd erscheinen.
Die Fremdbestimmung meiner Arbeit erinnert mich an die Situation meiner Mutter. Sie liegt in diesem Bett und hat meine Aufmerksamkeit, solange ich bei ihr bin, aber irgendwann gehe ich dann wieder, weil ich es nicht mehr aushalten kann, dass da jemand herzensnahes liegt und nicht mehr an der Gewöhnlichkeit des normalen Lebens teilnehmen kann. Da gibt es ein Missverhältnis zwischen den Sterbenden und den anderen Leuten, diesen Gesunden, die noch glauben, sie könnten in sich selbst Erlösung finden. Aber die meisten haben doch irgendwie den Faden verloren und greifen wahllos um sich, um sich mit einer Norm auszustatten, die unantastbar macht. Denn was macht man mit denen, die den Faden verlieren? Man ignoriert sie, und wenn sie ausflippen und Busse entführen, oder in Schulen oder Kirchen um sich ballern, oder wie Schmidt ihre Gehirnfunktionen in chemische Substanzen einlegen, dann sperrt man sie weg. Dann könnten sie auch tot sein, die Fadenverlierer, tot und weg, aus dem Sichtfeld von allen Dingen, denn sie versperren doch die Zufahrtsstraße ins Glück. Da guckt man lieber zweimal weg.
Und am allerbesten stellt man doch sein Untotsein durch den Besitz einer Norm dar. Das ist das deutlichste Signal und spricht: Räumt mich nicht weg, ich bin normal. Das ist meine Existenzberechtigung. Daher, aus dieser Angst heraus, bauen viele Leute Häuser aus genormten Steinen, hängen sich genormte Hunde an die genormten Leinen und begeben sich in normgerechte Partnerschaften und sind und bleiben fremdbestimmt. Und auch ich bin so geworden und es tut weh, das immer wieder zu erkennen. Der Job, die Mietwohnung, meine ganze Existenz ist auf den Pfeilern aufgestellt, die ich als Jugendlicher ausgelacht habe.
Und im Zustand zwischen diesen Dingen befinde ich mich. Mein Leben besteht ja aus kleinen dünnen Mauern, die ich aus Arbeit, festem Wohnsitz und der minimalen Beteiligung am öffentlichen Leben errichtet habe, aber dahinter, ja dahinter findet eine Pathosparty statt, die ich mal liebe und dann wieder verachte. Da wird getanzt und gesoffen und gelitten und gelacht, und alles geht und alles ist fühlbar, doch es bleibt keine Essenz liegen, nichts, was man aufheben kann und woran man sich festhalten mag. Die Abwesenheit von Sicherheit macht die ohnehin schon unsicheren Schritte noch instabiler. Ich meine die innere Sicherheit, die eine ohnehin schon fragile Persönlichkeit davor bewahrt, einfach so auf dem Boden zu zerschellen.
Und ich tanze immer noch auf dem Dancefloor meiner brachliegenden Seele, und danach lege ich mich in die Ecke und habe Träume aus Pappe, die ich nach und nach ins Feuer der Realität werfe. So sieht’s aus. Es knistert, und manchmal denke ich, dass ich verrückt werde. Und zwar ganz langsam. Oder dass sich irgendeine höhere Instanz aus meinem Leben einen Spaß macht. Ich, die Flipperkugel Gottes? Obwohl verrückt ja nur heißt, an einem Ort zu stehen, an dem man zuvor noch nicht gewesen ist. Schau her, ich habe diesen Schrank verrückt und jetzt ist mein Leben anders. In meinem kleinen Wahnsinn schlummern Möglichkeiten, das weiß ich.
Ich hatte also die Normalität, das gewöhnliche Leben an mich gerissen, um Buchhändler zu sein. So stupide dieser Job war, so strukturgebend war er auch. Nein, eigentlich habe ich an nichts gerissen , sondern es gab diesen individuellen Augenblick der minimalen Neuorientierung, und ich war wie eine Münze, die man in einen Brunnen wirft und sich daraufhin was wünscht. Nach all den anderen Jobs, warum nicht Buchhändler sein? Ich war ja gelernter Bürokaufmann und im Sachverhalte verwalten kannte ich mich aus. Aber nur nach außen hin, meine inneren Belange blieben zerkratzt und unbehandelbar offen.
Den Job hatte ich damals bekommen, weil der Ex-Ehemann von Frau Braun ein freundschaftliches Verhältnis zu meinem Vater pflegte, und so kam ich als ungelernter Buchhändler in diesen kleinen Laden, in diese Herberge von Holz und Papier, die mir immer mehr vorkam wie ein rustikales Gefängnis.
Dem allgemeinen Image des Buchhändlers, das in den Köpfen der Leute da draußen so halbgar vorherrscht, entspreche ich in vielen Punkten. Buchhändler werden häufig für introvertierte, nerdige Typen gehalten, die sich gern in sich zurückziehen, die vielleicht mit der ein oder anderen psychischen Auffälligkeit aufwarten können und Fachwissen einer allgemeinen
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