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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Soziabilität vorziehen. Ein wenig bin ich ja so, ein egomeditatives Ding mit depressiver Grenzerfahrung und mein Kopf ein Freizeitpark, in dem die Achterbahn im Dauerbetrieb läuft. Und auch die Geisterbahn ist voll besetzt.
    Frau Braun hielt sich irgendwo zwischen Kochbüchern und Haushaltstipps auf und neben mir stand Claudia, eingewickelt in Designerkleidung, und packte ein Kinderbuch in Geschenkpapier ein und lächelte dabei wie ein Weihnachtsengel. Manche Leute scheinen nur zu existieren, um maschinenartige Dinge mit der Rechtfertigung zu tun, dass irgendwer halt immer irgendwas zu tun haben muss. Claudia streichelte das Geschenkpapier glatt und der Kreislauf der Zwangshandlungen war geschlossen. Die Kundin lächelte zurück; es war ein Lächeln, das wie der Reflex wirkte, wenn man von einem 500-Watt-Halogenstrahler geblendet wird und zwinkern muss wegen der abstrusen Helligkeit und der eigene Ausdruck einem zur unfreiwilligen Freudenfratze mutiert. Ein Kind würde mit einem Buch beschenkt werden, und Claudia lächelte besinnungslos auf die Kundin ein, um eine Emotion vorzuheucheln, die sie vielleicht gar nicht hatte. Ich wusste nicht, wie sie funktionierte, diese Claudia, was ihr Antrieb war, warum sie diese Stumpfheit ausstrahlte und trotzdem irgendwie selbstbewusst dabei aussah. Ich konnte nicht verstehen, wieso sie augenscheinlich glücklich zu sein schien, der Job konnte es wohl kaum sein. Wahrscheinlich hatte sie Leute, die ihr ihre Schönheit wie hochglanzpolierte Spiegel reflektierten, und vielleicht reichte ihr das, um einen ganzen Tag lang zu lächeln. Vielleicht war sie aber auch tatsächlich einfach nur zufrieden, weil sie bedrohliche Mechanismen einfach nicht an sich ranließ, die Gedanken der Gefährlichkeit und der Unfreiheit nicht in ihr Bewusstsein bettete.
    Emotional derangiert und kognitiv dekompensiert stand ich da hinter diesem Kassentresen, neben mir die übersprudelnde und in der Berufsschule erlernte Kundenfreundlichkeit Claudias, und da war dieser Mann, der stand da vor mir und hielt ein Buch in der Hand. Er war im Alter meines Vaters, nur sah man seinem Kleidungsstil, seinem Gesicht, seinen Bewegungen und seinen Händen an, dass er nicht unter schmierigen Autos alte Ölreste abkratzen musste oder auf windigen Baustellen mit Schüppen und Eisenmatten rummachte, sondern an irgendwelchen Stätten der Sauberkeit ein irgendetwas verwaltendes Dasein fristete. FDP-Wähler, so fuhr mir ein Gedankengeschoss durch den Kopf, sind einkommensstarke Politdesinteressierte mit Hang zur Moralunterschätzung oder aber vollkommene Idioten, die aus Machtgeilheit ein politisches Amt bekleiden, nur damit sie was zum Anziehen haben.
    Der Mann vor mir begann zu sprechen, nachdem er mich ungefähr eine Minute lang gemustert und seine Blicke über meinen Körper hatte wandern lassen. «Junger Mann, bedienen Sie hier?» Geringschätzigkeit lag in diesen Worten. Es war die Geringschätzigkeit eines Mannes, dem alles zu gering vorkam, das Leben zu kurz, die Mitmenschen zu inkompetent, die Suppen zu verwässert. Ich zimmerte mir ein Ich-bin-so-dankbar-für-meinen-Job-und-lass-mich-gern-von-Kunden-wie-Biomüll-behandeln-Lächeln und nickte ihm mit zugewandter Freundlichkeit zu. «Was kann ich für Sie tun?» «Ach wissen Sie, diese Goethe-Gesamtausgabe, die kenne ich ja schon auswendig, ja, Goethe, so was fehlt unserer unreinen deutschen Kultur heute. Schriftsteller, die ein Gefühl für jede Stimmung hatten und wussten, dass Worte auch Arbeit sind. So einer war der Goethe.» Er hielt mir das Buch hin, ich nickte, wollte es gerade zum Kassieren an mich nehmen, da entzog er es mir wieder und monologisierte erneut auf mich ein. «Ja, wissen Sie, Goethe hat ja wie ich in Leipzig Jura studiert, bevor er dann nach Weimar kam. Kennen Sie Weimar, junger Mann? Natürlich kennen Sie Weimar nicht, Ihre Generation hat ja überhaupt kein Gefühl mehr für die Geschichte. Ja, Weimar, eine kreisfreie Stadt im schönen Thüringen. Vor allem bekannt durch ihr kulturelles Erbe. Und natürlich durch die Gedenkstätte Buchenwald, ich hoffe, Sie wissen, was da geschehen ist, junger Mann?» Und er redete weiter, und ich klinkte mich gedanklich aus und erkannte, was den Fremden und mich verband: außen eine leicht subversive Lethargie und innen tobender Krieg. Er redete auf mich ein, und in jedem Wort hörte man deutlich das Betteln nach Beendigung seiner Einsamkeit, aber er konnte, wahrscheinlich aus Selbstunsicherheit, nicht aufhören

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