Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Einwortantworten in direktem Nachhall auf seine Frage zu bekommen stellte etwas mit seinem Gehirn an, auf das er grad nicht klarkam. «Ist ja auch egal», sagte ich ihm, und ich musste meiner Stimme etwas mehr Druck geben, um irgendeinen lauten Metalsong zu übertönen, der den Raum mit brachialen Schallwellen zu durchkreuzen schien. Ich wischte mir Kalles Hand von der Schulter, und der guckte immer noch so, als warte er jetzt auf irgendein Spiel oder darauf, dass ich gleich einen Karton mit Bauklötzen vor seinen Augen ausschüttete, mit denen er seine Kreativität herausfordern dürfte. «Sag mal, Kalle, weißt du, ob Schmidt hier irgendwo unterwegs ist heute Abend?» Nach dieser Frage schlich sich eine Brutalität in Kalles Blick, die ich nicht erwartet hatte. Er zog mich mit sich, umklammerte mit seiner Hand mein Handgelenk und schleifte mich Richtung Bar, wo er dem ebenfalls nach hygienischem Hilfsbedarf aussehenden jungen Mann, der sich dahinter aufhielt: «Zwei Bier und wenn’s schnell geht, macht nix!», entgegenbrüllte, worauf dieser aktiv wurde und in einem ranzigen Kühlschrank kramte. Wir setzten uns auf die Reste von zwei Barhockern, hier war so ziemlich alles kaputt.
«Schmidt ist komplett im Arsch, Alter», begann Kalle seine Ausführung, «der ist auf irgendso ’ner Chemikalie hängengeblieben.» «Wie Chemie? Der hat doch eigentlich nur mit Alkohol und eventuell mal Kiffen zu tun gehabt.» Ich war verwirrt. Schmidt, ein Chemiedrogenopfer? Unsere Biere wurden auf den Tresen gestellt. Wir tranken schweigend den ersten Schluck, bevor Kalle weiter berichtete: «Also, du warst echt lange nicht mehr hier, Schmidt hat dann so’n Typen kennengelernt, so’n Raver, der ab und zu mal hier war und sich zugeknallt hat. Der hat dann Schmidt mit Tanztabletten versorgt. Und Schmidt ging voll drauf ab.» Wir tranken, ich schwieg, Kalle sprach laut weiter, spuckte Bierschaum auf meinen Unterarm. «Du glaubst das nicht, wie Schmidt drauf war. Ey, der kam hier vor ein paar Wochen mal rein und hat sich mit jedem angelegt, Entzug oder so, keine Ahnung. Der hat sogar Sibylle verdroschen, weil er auf irgendwelche Chemiedrogen nicht klarkam. Kennst ja Schmidt, wenn der mal was gefunden hat ...» Kalle lachte, wie man lacht, wenn man über einen unlängst Verstorbenen spricht, dieses in sich gekehrte Lächeln nach kurzem Hallgelächter, versonnene Blicke durch den Raum werfend, Hach-ja -Handbewegungen durch die Atmosphäre streichelnd. «Und wo ist er jetzt unterwegs?» Ich wurde etwas nervös, weil Kalle so eine aufgesetzte Pathosfigur war, wahrscheinlich auch eine Nebenwirkung von sozialen Defiziten. «Psychiatrie, Mann, der Schmidt is in ’ner Klapse, Alter, und ich glaub auch nicht, dass die den da wieder rauslassen.» Kalle stürzte sein Restbier runter. «Irgendwann saß der nur noch bei sich zu Hause im Garten und hat gequiekt wie ein Ferkel, weil sein Gehirn anscheinend verpufft ist, und dann hat er in der Sonne gesessen und keine Sau hat sich drum gekümmert, is ja nie einer da, und irgendwann iss er halbwahnsinnig irgendwo im Park gesehen worden, wie er Enten verfolgt hat, und dann ham sie ihn eingewiesen, herbe Geschichte. Seine kleine Schwester hat gesagt, er sitzt da nur rum, malt Kinderbilder mit Wachsmalkreide und würd sich vollpinkeln, wenn ihm danach is. Böses Ende so weit.» Kalle erwartete wohl in irgendeiner Form Zustimmung oder Nachfragen zu seiner Berichterstattung, aber ich war zu verwirrt zum Sprechen, zu viele Dinge drehten sich in meinem Kopf, unter anderem Schmidts Weintraubenpenis und seine lustvolle Art dem Leben alles abzugewinnen außer Zwang. Und dann passierte so was. Enthirnt von den falschen Drogen. Der gute Schmidt.
Ich trank mein Bier langsam aus, Kalle bestellte Schnaps, bot auch mir welchen an, aber ich wollte keinen Hardtalk, ich war ja mit dem Auto da. Meine Gedanken waren in diesen Stunden lauter als das Hardcoregebolze aus der Beschallungsanlage, meine Wahrnehmung hatte plötzlich viele Filter und ich sah alles wie hinter Glas und hörte alles wie unter Wasser. Stimmen schwammen wie kleine Fische an mir vorbei, Musik waberte wie ziellose und dem Zufallsprinzip anvertraute Meeresalgen durch meinen Kopf, ohne imstande zu sein, mich zu berühren.
Ich fuhr irgendwann nach Hause und wusste, dass ich auch nicht so schnell in dieses Aquarium der stinkenden Fische zurückkehren würde. Mir machte der Gedanke Angst, eventuell Mitschuld an Schmidts Untergang zu haben. Vielleicht
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