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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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mit dem Gerede und schlug mir Wortschwall um Wortschwall wie ein durchgeknallter Poetry Slammer um die Ohren, und ich begriff die Tragik, die er darstellte, denn sie war meiner eigenen Tragik nicht unähnlich, und er endete mit: «… das ist dann wohl ein Generationenproblem ...» Er schluckte, wirkte irgendwie gerührt und die entstehende Pause verband uns. «29,99 bitte», sagte ich dann schlussendlich, weil ich es nicht mehr aushielt, und ich sah in seinem Gesicht die Unausgeglichenheit, deren Opfer er war. «Haben Sie vielleicht eine Tüte?» Ich lächelte dienstmädchengleich und ließ das Buch in eine Plastiktüte sinken, die ich ihm lächelnd reichte. Nun sah er ganz kurz so aus, als wolle er seinen wahren Schmerz doch noch artikulieren, aber seine Schwäche, die sich als Stärke verkleidet hatte, konnte das nicht zulassen. «Und denken Sie mal über Weimar nach, es ist wunderschön dort, auch für junge Menschen.» Sein leicht weinerlicher Ausdruck zum Ende seines Monologs hätte mich fast mitgerissen, Mitgefühl schaukelte an mir rum, verlangte von mir eine Umarmung oder Ähnliches, aber auch ich nickte nur abwesend und meinte: «Danke für den Hinweis und einen schönen Tag noch.»
    Der Mann ging weg, sein letzter müder Blick aus seinen zusammengekniffenen Augen streifte mich, war aber schon so leer wie seine Worte. Sein Mantel wallte um seine Beine, und er wirkte wie ein Cowboy nach einem Duell, der seinen Gegner zwar mit einem gezielten Kopfschuss erledigt hatte, das Geschoss aber, das im eigenen Herzen steckte, nicht bemerkte. Da wurde mir bewusst, dass, wenn ich nicht beginnen würde, meine eigenen Barrikaden, die um mich waren, zu zerstören, dann die Möglichkeit gefährlich groß wäre, ebenso tragisch wie eben jener Mann zu enden. Ich schaute ihm nach, sah, wie er aus dem Laden schaukelte, und verlor ihn dann in der Fußgängermasse, die ihn vor dem kleinen Buchladen verschluckte.
    Der Rest des Tages war wie ein schwerfälliges Ein- und Ausatmen. Er war wie Sauerstoffzufuhr durch verschmutzte Atemwege. Das Gehirn nur langsam, die Augen nur müde und der Gang immer schleppender. Am Abend, kurz vor Feierabend, entdeckte ich Frau Braun am Philosophieregal, wie sie ein Ludwig-Wittgenstein-Buch umklammerte und den Buchdeckel streichelte, ich glaube, es war Über Gewissheit . Das Bild der überkandidelten, alternden, verrückt anmutenden Buchliebhaberin, verzweifelnd im eigenen Laden, gab ich mir eine halbe Minute, dann wandte ich mich aus Fremdpeinlichkeit ab. Ich wusste nicht, ob sie wusste, wie sie in meinen Augen wirkte. Sie genoss bei mir schon den Status einer Vorgesetzten, allerdings mit den Merkmalen der grenzdebilen Kaputtheit. Irgendwie war sie ja süß in ihrer Kompromisslosigkeit, all diese Bücher liebzuhaben.
    Claudia war jemand, die gern auf der menschlichen Oberfläche spazieren ging. Sie hat nicht diese Braun’sche Tiefe im Umgang mit Büchern, für sie waren das lediglich Produkte, als würde sie Zahnbürsten oder Glühbirnen verkaufen. Aber sie professionalisierte sich immer mehr in diesem Metier, manchmal überraschte sie mich mit Zusammenfassungen von Büchern, die sie nie gelesen hatte, verwies dann aber auf ihre Berufsschule und dass man da so was lerne. Aber ich glaube, sie könnte auch Schlachten oder Anstreichen lernen, die Claudia. Sie hatte wohl ein auswendig gelerntes Leben mit einer auswendig gelernten Frisur und auswendig gelernten lebenspraktischen Verrichtungen. Da schien es einen Plan zu geben, einen überdeutlichen, und dieser Plan schien über allem zu stehen, und so Kleinigkeiten wie Kleidungsstil, Haarlänge und Wortschatz gehörten auch zur Vollkommenheit dieses Plans, den die Claudia da zu erfüllen gedachte.
    Dieser Tag, wie so viele Tage, ein Regenschauer aus Langeweile, bitteren Gefühlen und meinen kleinen Analyseanwandlungen. Manchmal dachte ich, ich sollte Psychologie studieren, weil ich meine Beobachtungsgabe für entwaffnend hielt, dann aber hatte ich diesbezüglich auch Angst vor mir selbst, denn was war, wenn ich herausfand, dass in mir etwas nicht stimmte. Wenn in mir fehlgeleitete Gefühle oder Bewusstseinsoptionen herumwaberten, die ich am Ende gar nicht kontrollieren konnte. Und dann würde ich dasitzen, ein Psychologiediplom in der Tasche, und hätte aber die Erkenntnis im Rucksack, dass ich nicht wirklich funktioniere, dass ich ein Fehler im System bin, vielleicht sogar das System im Fehler; ja, vielleicht bin ich tatsächlich ein systematischer

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