Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
Vom Netzwerk:
blieb ich zum Erstaunen meiner immer noch stark dafür sensibilisierten Mutter einige Wochenenden zu Hause, rauchte mir Nebelschwaden durchs Zimmer, schrieb Gedichte und hörte Musik, die ich mit Schmidt nicht hätte genießen können. Ich fühlte die Expansion meines Egos, irgendetwas kroch in mich, eine Erkenntnis, ein Glaube, eine Vergrößerung meiner Sinnesorgane ohne Drogeneinfluss, nur aufgrund der Tatsache, dass man anfängt zu denken. Ich ließ auch vom Alkohol ab und mein Verstand klärte sich allmählich.
    Ich hatte ein wenig dieses Rocky-Balboa-Feeling aus dem Film Rocky 2. Es handelt sich bei diesem speziellen Gefühl um eine ungefähr zweiminütige Szene aus diesem Film. Balboa springt förmlich aus seinem Haus, dazu ertönt eine Fanfare, die diesem Augenblick etwas Erhabenes anhaften lässt. Dann läuft er los, rennt durch seine Nachbarschaft, immer mehr Leute heften sich an seine Fersen. Dann steht Rocky Balboa vor einer schier endlos aufwärts ragenden Treppe, der Boxer spurtet, gefolgt von all den «Mitläufern» die Treppe hinauf. Unten sieht man die ganzen Verfolger, die jetzt nach und nach auf die Plattform kommen und den Boxer umzingeln, als wäre er das Monument, das es zu bestaunen gelte. Die Menge brüllt «Rocky, Rocky» und alle hüpfen auf und ab und auch Balboa nimmt sich dem Hüpfrhythmus an. Eine der epochalsten Filmszenen der 80er-Jahre. Durch meinen Kampf bin ich umschlungen von allem und es gefällt mir gut auf dem Berg der Egosinnlichkeit ...
    Ich erweiterte meinen Geist mit Büchern von Sartre, Brecht und Marx, verstand manchmal alles, manchmal wenig, oft auch gar nichts, aber ich las mir die Gehirnwindungen bröselig. Das tat gut. Ich war ja mittlerweile achtzehn geworden, hatte den Führerschein gemacht und sparte immer noch für die erste eigene Wohnung, was fühlbar kurz bevorstand. Selbst meine Mutter legte in diesen Tagen eine seltsame Lockerheit an den Tag, die ich nicht von ihr gewohnt war.
    Nach Wochen ging ich dann mal wieder in den Club, es war ein Freitag, ich war nüchtern, mein Vater hatte mir sogar sein Auto geliehen, was ich für einen wunderbaren Vertrauensbeweis hielt. Mein Vater legte generell immer viel Wert auf seine Fahrzeuge, auf alle, die er jemals besessen hatte; er hatte diese typisch deutsche KFZ-Verliebtheit, die machte ihn berechenbar, aber liebenswert. Langsam, so schien es mir, entwickelten sich mein Vater und ich zu Menschen, die einander egal waren, aber in dieser Entwicklung zumindest so etwas wie Respekt voreinander empfanden.
    Als ich in den zugerauchten Club kam, überfiel mich irrsinniges Grindcoregeballer und ich musste grinsen, fühlte mich mit meinen achtzehn Jahren bereits als Nostalgiker, und es war wie ein abcheckendes Heimkommen, wie das Wiederkommen nach einiger Zeit des Fortbleibens mit dem Wissen, dass sich da, wo man fortgeht, nicht viel ändern würde. So meine Spekulation, so die Realität. Hier hielten sich immer noch die gleichen Personen auf, die in ihrer gleichmütig besoffenen Art ihre Revolution zur Unmöglichkeit erklärten. Die Musik rummste aus der alten Anlage, der Raum war bevölkert von jungen Menschen, die alle eine Art des Andersseins und Individualismus pflegten. Es war aber eher diese Art Individualismus, die jedem, der diese Szene hier kannte, ins Gesicht brüllte: «Es ist egal, ob du Terrorist, Putzfrau oder Bürokaufmann bist, dein Leben bleibt gebrochen.» Das war wahrscheinlich auch der Grund, der mich unbewusst schon immer hergezogen hatte, der aber jetzt mit der Distanz zu diesen Menschen an diesem Ort noch deutlicher zu spüren war. Ich fühlte wieder Balboa-Erhabenheit. Dies war nicht mehr mein Zimmer und es tat gut, das zu wissen.
    Ich suchte Schmidt in den Reihen derer, die sich mit hochprozentigen Schnäpsen in eine Ecke zurückgezogen hatten, um ihrem Leben zumindest für die Stunden des Rausches eine positive Nuance zu schenken. Er war nicht dabei. Dafür kam aber einer, den sie Kalle nannten, von dem ich aber nicht wusste, ob er wirklich so hieß, auf mich zu, um mich zu begrüßen. Kalle stank nach Schnaps und der verpassten Möglichkeit, seine Kleidung zu wechseln, wenn man sie mal vollgekotzt hatte. «Ey, Mann, lang nicht mehr gesehen, Alter.» «Ja, war lange nicht hier, stimmt.» Kalle legte seinen Arm auf meine Schulter und wirkte so hilfs- und schutzbedürftig wie ein Kleinkind in dieser coolen Geste. «Was hast denn so angestellt in der Zwischenzeit?» «Überlegungen.» Schweigen.

Weitere Kostenlose Bücher