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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Fehler, der einfach irgendwo in der Weltgeschichte aufgetaucht ist und sich selbst in Unruhe versetzt hat. Daher nahm ich vom Gedanken an ein Psychologiestudium Abstand. Viel zu gefährlich, viel zu nah an der Selbsterkenntnis. Ich glaube ja, dass Menschen einen Automatismus haben, der es ihnen erlaubt, eine andere Denkrichtung einzuschlagen, wenn da ein mit allen Waffen der Selbstzerstörung ausgestatteter Schmerz auf sie zukommt. Das ist purer Selbstschutz. Zum Beispiel ein Lied pfeifen zu können, wenn die Mutter im Sterben liegt. Diese Fähigkeit hat jeder Mensch, manche haben sie nur sehr stark in sich vergraben. Unter Emotionstrümmern wie Hass, Desinteresse und dem Hadern am Eigenschicksal.
    Ich dachte mich immer tiefer in einen Sumpf. So ein Sumpf hat ja die Eigenschaft, dass er einen umso mehr runterzieht, je heftiger man sich in ihm bewegt. Ich versuche seit Jahren, mich freizustrampeln, und werde immer bewegungsunfähiger. Tiefer sinkend. Ich muss nach Hause, ein Lied pfeifen, vielleicht ein Bier mit Kai trinken, aufhören das Leben zu analysieren und an Dingen hängen zu bleiben wie Fehlen, Sterben oder Untergehen. Ich sollte versuchen, Akzeptanz zu lernen, doch wie geht so was? Ich kann doch nicht einfach irgendwo stehen bleiben, dem unausweichlichen Schicksal mich als Nahrung anbieten und das auch noch gutfinden. Oder doch?
    Daraus ist Akzeptanz doch gemacht. Akzeptanz bedeutet ja auch Aufgeben, das Hinnehmen von Unausweichlichkeit, und man fühlt sich so dumm wie ein Reh, das auf einer ICE-Strecke grast und dann zerbrochen im Graben des Schicksals liegt und sich fragt, wieso es das jetzt nicht akzeptieren kann, dass es so doof war, da einfach stehen zu bleiben, als der Zug kam, und nicht einfach den entscheidenden lebensbejahenden Schritt zur Seite tat. Ich will nicht so enden wie ein kaputtes Reh im Gleisbett, ich will leben, und wenn der große böse Zug auf die Strecke kommt, auf der ich mich gerade befinde, dann suche ich mir eine andere Zugverbindung und verschwinde. Aber lebendig.
    Hinten im Bus war Platz für mich. Wieder diese letzte Bank, und mein Kopf spulte diverse Videobänder des Tages vor und zurück, und ich dachte noch daran, dass der Wahnsinn manchmal dichter an einem ist als die Vermutung, ein funktionierendes Leben zu haben. Der Bus schleppte sich durch den Feierabendverkehr und verhielt sich dabei wie ein in der Großstadt verirrter Hund, der aus Orientierungsgründen an jedem Kackhaufen riecht. Und dann immer die Suche nach dem Daheimgefühl und immer wieder nur fremde Scheiße beschnüffeln. Ein seltsames Gefühl völliger Leere füllte mich aus. Das hier fühlte sich nicht an wie Nachhausefahren, das fühlte sich an, wie in einer Ladung Kotze nach etwas Essbarem zu fahnden.
    Als ich nach einer Stunde stumpfmachendem, aber immerhin Gedankenmasse auflösendem TV-Programm in meinem Bett lag, war ich ziemlich durch. Durchsein bedeutet aber nicht, etwas überstanden zu haben, sondern lediglich abgewetzt wie eine zweihundertsiebenundsechzigmal gewaschene Unterhose auf der Wäscheleine des Lebens zu hängen, um sich auf den nächsten Gebrauch am Unterleib vorzubereiten. Das Gefühl des Wartens. Das Denken im Warten. Das Alleinsein im Denken im Warten. Das machte alles schwierig und irgendwie klebrig. Das Denken an die Vielfalt der Optionen, das gefiel mir irgendwie nicht, das war alles mehr, als meine teilweise autistische Wahrnehmung zur Verarbeitung weiterleiten konnte. Deswegen war ich unruhig. Getrieben gar vom Phänomen der Freiheit, die mir jeden Tag versuchte, den Arsch anzuzünden, als ob sich ein Raketentriebwerk darin befände, aber ich war immun gegen diesen Gedanken.
    Ich lag also da, in diesem Bett, und auch wenn die Augen geschlossen waren, kam da so ein Licht vorbeigeflitzt, eins, das so seltsame Striche durch mein Leben machte, zarte, aber trotzdem extrem präsente Linien, die klare Blicke auf Ruhepole störten. Ja, verdammt, irgendetwas störte mein Leben, und ich war nicht imstande es wegzuräumen. Vielleicht war es auch meine Mutter, die sterbend herumlag, hilflos, abhängig, nicht mehr autonom agierend, und ich konnte diese Gedankengeschosse nicht verarbeiten. Oder es war die Unfähigkeit sich zu bewegen, in einem Land, das Freiheit zwar ermöglicht, aber alles daran setzt, dir Ketten um deine Existenz zu werfen, und zwar so lange, bis du die Ketten akzeptierst und dich an sie gewöhnst. Irgendwie sah ich auch nur noch Menschen, die wie die Inhaber verlebter Fressen

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