Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
wurde ein zögerliches Magnetbandlallen und daraus schließlich Stille. Schade.
«Schlucken, Bernd, schlucken.» Der junge Mann neben Bernd wurde nervös, aufgebracht gar, und Bernd beeindruckte das nicht; zähe Fäden dicken, graumelierten, anscheinend sogar noch mit Medikamenten- und Essensresten durchzogenen Speichels troffen aus Bernds Mund und sein quadratischer Kopf nickte dazu hospitalistisch anmutend. Dabei wackelte sein Epilepsieschutzhelm. Bernd trug einen grauen Anorak mit reflektierenden Streifen an den Armen und eine schlabberige Jeans, dazu klobige orthopädische Schuhe. Bernd sabberte direkt auf meine Schultasche, die auf dem Boden vor dem Sitz lag. Dazu artikulierte er Worte, die keine waren, eher Bruchstücke einer Sprache, die es noch zu erfinden galt. «Bernd, nicht!» Der sichtlich vor dem Überforderungsburnout stehende junge Mann wischte mit einem grünen Stofftuch Bernds Mund frei von Spuckeresten, woraufhin Bernd erneut seinen Mund mit der schier unendlich in ihm stattfindenden Flüssigkeit füllte und die Sache laufen ließ. Blupp, blupp.
Normalerweise schaute ich dann weg, wenn sich diese Begebenheiten vor meinen Augen arrangieren wollten, diese Begebenheiten, wenn zwei Menschen, die in irgendeiner Verbindung zueinander stehen, in meiner unmittelbaren Umgebung zu streiten begannen. Das war aber jetzt unmöglich, denn ich saß im Bus, und zwar auf diesem Platz, vor dem normalerweise Leute ihre Fahrräder, zusammengeklappten Rollstühle oder sonstigen schwer zu transportierenden Sperrkram hinstellten. Nun stand da aber Bernd mit seinem Begleiter. Und ich wünschte, es wäre stattdessen ein schwerer Gegenstand, der rhythmisch schmerzerzeugend bei jedem vom Busfahrer geschalteten Gang und bei jeder Bremsung gegen mein Schienbein stieß und berechenbare Schmerzschübe aussendete. Stattdessen standen da aber Bernd und sein Betreuer, Zivi, Bruder, was weiß ich, und Bernd speichelte direkt auf meine Schultasche, die ich mich nicht wegzunehmen traute. Ich fragte mich, ob das schon Diskriminierung wäre, sein blödes, kleingeistiges Eigentum vor einem Geistigbehinderten zu schützen. Ich ließ die Tasche liegen, Bernd sabberte kräftig mit ewigem Speichelfluss drauf. «Schlucken, Bernd, schlucken, ach Bernd, nee ...» Die Begleitperson war hoffnungslos überfordert, Bernd bekam das natürlich mit und ließ sie vollends auflaufen.
Die beiden wirkten wie ein Ehepaar, das gerne wandert, aber beide Partner unterschiedlich schnell laufen. Eine Zufallsgemeinschaft, in diesen Bus, in dieses Leben gespült und jetzt mussten beide situationsbedingt damit klarkommen. Dass daraus eine unmittelbare Aggression auf der Seite des vermeintlich Bewusstdenkenden erwuchs, war aber klar, denn er befand sich innerhalb sozialer Hemmschwellen. Sozialdienstleister, die ihre ihnen anvertrauten Behinderten schlagen, haben ungefähr das Ansehen eines Messdiener fickenden Pastors; also beides gibt es, und beides wird auch unter den Tisch der Vergesslichkeit gefegt, sobald es öffentlich wird. Beides wird aber auch allzu gern als pädagogisches Wirken bezeichnet, in der Öffentlichkeit jedoch doppelkinnmoralistisch verurteilt.
Ganz sicher würde sich Bernds Begleitperson nicht dazu hinreißen lassen, öffentlich mehr zu tun, als bloße verbale Verhaltenskorrekturvorschläge zu entäußern, aber in seinem Gesicht sah man deutlich die Aggression der Anspannung, diesem geistig behinderten Mann unterlegen zu sein. Zwischen diesen beiden Menschen gab es ein Kommunikationsproblem, das Bernd dazu bemächtigte, zumindest für die Dauer einer Busfahrt die Oberhand in diesem wahrscheinlich ansonsten wohl eher einseitig geprägten Machtverhältnis zu haben. Im Ausdruck des Begleiters standen Worte wie «Essensentzug», «kalte Dusche» und «gezielte Schläge ins Quadratgesicht zur Korrektur des unpassenden Verhaltens», und ich glaubte, sogar Spuren des Wortes «Euthanasie» zu erkennen. Bernd lächelte dieser angespannten Visage entgegen. Aber alles, was der Begleiter sagte, war: «Schlucken, Bernd, schlucken sollst du, Bernd, runterschlucken, die Spucke, Bernd, hörst du ...» Bernd hörte das natürlich, hörte aber nicht auf und ließ es laufen. Man sah in seiner vor hysterischer Freude bibbernden Fratze die Erkenntnis der Machtergreifung in diesem Moment. Bernd war personifizierte Passivität, war sich vielleicht sogar der Geschütztheit durch seine Behinderung bewusst und ließ es laufen, und meine Schultasche wurde zu einem
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