Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
traf ungebremst meinen Oberarm, der Schmerz war zwar da, war mir aber mittlerweile egal geworden. Ich wusste nicht mehr, wie oft sie heute schon zugeschlagen hatte. Ich hatte aufgehört zu zählen, nachdem sie die zumindest für mich erklärte Unantastbarkeit meines Kinderkörpers ignoriert hatte. Der Schlag ins Gesicht des eigenen Kindes, wie viel zerrüttete Verzweiflung und Lebenserhaltungsschiefstand musste da in ihr stattfinden?
Für meine Mutter war eine gesicherte Finanzierung der Familie immer wichtig. Fassadenfrohsinn contra innere Stabilität. Diese innere Stabilität der Beziehung nämlich, die zwischen meiner Mutter und mir stattfinden sollte, war eine unbegehbare Ruine geworden, an der wir täglich Abbau betrieben und in der wir uns vor lauter Trümmern immer weniger auskannten. Wir rannten durch die Gänge auf der Flucht voreinander, jeder von uns ein Einzeltäter, unfähig, das Wort «Bindung» zu buchstabieren. Die Gefühle verflogen mit den Schlägen, die ich erst in späteren Jahren als Überforderungsergebnis katalogisieren konnte. Als geschlagenes Kind im Vollrausch der Eigengefühle bekommt man so was nicht mit, dann tut es nämlich in erster Linie weh und Unverstandenheit erfüllt den Sinn der Pubertät.
Es war ja nicht nur, dass ich Schuldgefühle mitbrachte, diese blöde Schultasche nicht mehr zu haben, sondern es war auch das zerfräsende Gefühl in mir verortet, an dieser Unkontrolliertheit meiner Mutter mitgewirkt zu haben, diese Frau so sehr zu stressen, dass sie einfach nur noch ihre eigene emotionale Überforderung als Schmerz weitergeben konnte. Ich wurde weniger dadurch, mein menschlicher Wert sank dadurch, mit mütterlichen Schlägen traktiert zu werden. Und es brachen wichtige Teile Gefühl weg, die ich zu meiner Mutter hatte, den Respekt vor ihr, konnte sie mir zwar nicht aus dem Leib klopfen, der war irgendwie verwachsen mit meiner Kinderseele; aber ich fühlte mich in solchen Situationen wie ein dürrer Baum im Herbstwind, der immer weniger wurde, immer weniger darstellte, nur dastand und Dinge fallen lassen musste, die ihn geschmückt hatten, und dass nur wegen des Winds, der an einem zerrte und einen mit dem Gefühl zurückließ, ein Atomtestgelände zu sein. Meinen Gefühlsverkrüpplungen wurde so ein Dünger untergeschoben, auf dem sie weiter gedeihen konnten.
Ich ging in mein Zimmer und bestückte meinen Walkman mit Batterien und irgendeiner Punkkassette, die so rumlag. Es war laut in meinem Kopf, die Schmerzen waren egal, das Ausgeliefertsein und den Launen meiner Mutter zu unterliegen irgendwie auch. Ich war nur noch ein Hauch. Eine Nebelschwade, die unter Türen herwabert.
Es wurde laut, ich brauchte eine Art Gegengewalt von außen, die auf meinen Kopf einwirkte, und Stromgitarrenmusik war mir eine liebe von außen wirkende Gewalt. Ich fühlte mich wie ein angeschossenes Wildschwein, das von 27 Jägern in einen Ecke getrieben worden war. Ich hatte Wildschweingedanken wie: Drei von denen kann ich mitnehmen, bevor es mich selbst erwischt. Es würde schwer werden, die Amoklust zu unterdrücken, denn ich spürte, wie es in mir regnete und auch wie es warm wurde, also die besten Voraussetzungen für ein Gewitter, das aber nie kommen würde. Ich war ein menschliches Regengebiet, ohne Aussicht auf Besserung in den nächsten Wochen, denn ich war feige, zu feige für die Wahrheit, zu feige für meinen eigenen Ekel. Diesen Bernd und den aufkeimenden Brechreiz, den ich ihm gegenüber empfand, konnte ich nicht artikulieren, ohne bei meiner Mutter weitere Wut zu erregen. Ich fühlte mich ja selbst mehr als schuldig, Bernds Sabber nicht einfach als natürliches, vielleicht sogar Gott gegebenes Phänomen zu akzeptieren. Einfach die Tatsache anzuerkennen, dass er halt einer war, der Schultaschen unbenutzbar spuckte, das wollte mir irgendwie nicht gelingen.
Ich habe die Tasche wohl aus dem Bus mitgenommen, sie aber dann in den nahegelegenen Tümpel geworfen. Die ganzen Schulsachen waren Schuldsachen geworden. Englische Vokabeln, mathematische Formeln, geschichtliche Vorkommnisse, alles nun ein Opfer der Nässe. Das Ding versank einfach so im Tümpel, ohne viel Aufsehen zu erregen. Das tat gut, das Werfen, das Schmeißen der Tasche, die zum Feind geworden war, aber fast gleichzeitig kam das Schuldbewusstsein, dass dieser einzig für mich mögliche Weg doch wohl ein ziemlich seltsamer war. Eigentlich sogar ein annähernd menschenverachtender. Ich ertrug Bernds Speichel an meinen Sachen
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