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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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triefenden Stofffetzen, vollständig eingesabbert von Bernds Speichel.
    Ich erkannte die Unfähigkeit des Begleiters, Bernd aufzuhalten, und auch meine eigene Eingeschränktheit, einfach meine Tasche wegzuziehen, um sie vor Bernds Speichelfluss zu schützen, und das alles, weil sich niemand, inklusive mir, hier traute, dem Bernd mal kräftig in den Arsch zu treten für sein Verhalten. Die Belegschaft des Busses sah diesem Schauspiel stumm oder mit bewusst ignorierender Teilhabe zu. Diese ungesunde Mischung aus gespielter Toleranz und anonymem Ekel. Dieses Phänomen war mir bereits von vielen sogenannten Erwachsenen bekannt.
    Ich wusste, dass in zwei Stationen die Bushaltestelle des örtlichen Behindertenwohnheims war, und hoffte inständig, dass die beiden da aussteigen würden. Meine Hilflosigkeit nervte mich, bedrückte mich sogar, und ich sank tief und unbeteiligt in meinen Sitz zurück. Es war schlimm für mich, so fremdbestimmt zu sein, meine Tasche ekelte mich an, ich gewöhnte mich an ihren Verlust, an den Spucketropfen für Spucketropfen verschwindenden Bezug zu ihr. Ich würde sie nie wieder anfassen. Vielleicht nur noch ganz kurz, aber dann würde ich sie nur hochnehmen, um sie wegzuschmeißen. Bernds medikamentöser Essensrestespeichel hatte sie auch bestimmt schon zersetzt. Ich sah nicht runter, wollte nicht die Wahrheit sehen, die sich unterhalb meines Blickfeldes offenbaren wollte.
    Tatsächlich stiegen die beiden am Wohnheim aus, Bernd stieß einige hohe und schrille Schreie aus, weil er wohl wen zu erkennen glaubte, der draußen rumlief, und endlich traute ich mich, einen Blick auf meine traurige Tasche zu werfen. Zuvor aber sah ich noch durch die Scheibe des anfahrenden Busses, wie Bernds Begleiter sich vor Bernd aufbaute und diesen mit aggressiven Stößen vor sich hertrieb, als sei der eine Kuh, die von der Wiese in die Melkstätte überführt werden sollte. Darin erkannte ich wieder die Unfähigkeit des Mannes, aber ich verstand seine Wut; ich glaube, da hilft auch keine Metalkassette mehr, sondern nur noch der Blick in schmerzverzehrte Augen, wenn man wem den Finger Richtung Handrücken biegt, um die Elastizität der Sehnen zu überprüfen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie das dem Pfleger von Bernd mal während einer Pflegesituation «passieren» würde. «Oh, war das deine Hand, die ist aber mit sehr elastischen Sehnen ausgestattet», würde er dann sagen, und Bernd hätte von dem Augenblick an ein schlechtes Gefühl, was er aber schon bald wieder vergessen hätte, weil seine Behinderung keinerlei Filtermechanismen aufwies und ausgeklügeltes, personenbezogenes Erinnern unmöglich machte, und schon beim nächsten Schmerz oder dem nächsten blinkenden Wahrnehmungsangebot war das Umbiegen der Finger vergessen.
    Meine Schultasche lag da am Boden, umspült von einer grau-bläulich schimmernden Ursuppe aus festem, teilweise schon angedicktem Speichel. Ich unterdrückte einen Würgereflex, der Geruch, der von diesem eingespeichelten Grauen her aufstieg, war wie der Anblick nicht von dieser Welt. Zumindest war das nicht meine Welt, ich wusste nichts über Bernd, empfand aber einen maßgeblichen Ekel und eine gleichzeitige Scham wegen dieses Ekels, seine Körpersäfte mit nach Hause zu tragen.
    «Mama, tut mir leid. Ich hab die Tasche einfach vergessen.» Ich hatte wieder zu heulen begonnen, aber es war kein Heulen aus Schmerz oder Trauer, sondern einfach nur die Wehmut darüber, nicht mit der vollen Ehrlichkeit aller meiner Gefühle an sie treten zu können. «Die Tasche. Einfach vergessen.» Ich schluchzte und erwartete kein Verständnis. Ich kannte meine Mutter und die Kompromisslosigkeit ihrer Erziehung. Und die kleine Verzweiflung, die immer in ihren Handlungen lag, wenn sie nicht wusste, wie sie mir verbal begegnen sollte. Sie ohrfeigte mich erneut, wieder mit dem gleichen Satz, ich solle besser auf meine Schulsachen aufpassen und alle verloren gegangenen Bücher, Hefte, Stifte und so weiter wären natürlich sehr teuer und ob ich mir vorstellen könne, wie lang mein Vater für meine Vergesslichkeit arbeiten müsse. Konnte ich nicht. Schon wieder spürte ich Hilflosigkeit in Form des Auftreffens ihrer flachen Hand in meinem Kindergesicht und ihr verzweifeltes Schreien. Die Hysterie übernahm die Kontrolle über meine Mutter und irgendwann bestand sie nur noch aus Gewaltausbruchsvorverhalten und dem wiederholten Schrei, dass ich ja wohl das Letzte sei. Dann schlug sie wieder zu, ihre kleine Faust

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