Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Hürdenläufer war ich vor den Umständen, die mich umstanden.
Frau Braun hatte sich krankgemeldet, Claudia und ich waren seit einer Woche allein im Buchladen, und sie kam mir oberflächlicher denn je vor. Es hätte meine Einsamkeit ein wenig entschärft, wenn sie sich nur um ein klein wenig Zugang zu meiner Welt bemüht hätte. Aber alle Gespräche, die wir hatten, gingen nicht über ein Niveau hinaus, das Leute haben, die sich im Supermarkt treffen, aber eigentlich gar nicht treffen wollten.
Außerdem ging es meiner Mutter erheblich schlechter. Ein Arzt hatte mich angerufen und mir von ihrem Zustand berichtet. Dieser Arzt war ein sehr unsensibler Mann, der seinem medizinischen Fachwissen freien Lauf ließ und einen Wortschwall aus Fachbegriffen auf mich herabregnen ließ, die ich manchmal zwar einzeln, nie aber wirklich im Zusammenhang verstand. Ich stand im Sperrfeuer der Sondertermini und fand weder Schutz noch Halt. Das Einzige, was in diesem Arztmonolog wirklich ernsthaft erkennbar war, war die Tatsache, dass die irdische Existenz meiner Mutter bald ausbleichen würde. Zum ersten Mal hatte das jemand so direkt ausgesprochen. Er benutzte Wörter wie «Endstadium», «Lungenentzündung», «Humanismus», «Krankenkasse», «Grenzen der Medizin», «Atemprobleme» und «Absaugen». Dieses Absaugen erklärte er mir in zwei Sätzen: «Da Ihre Mutter so langsam ihren Schluckreflex eingebüßt hat, muss das Pflegepersonal sie absaugen, da sie in den oberen Atemwegen Sekrete bildet, die sie nicht mehr abhusten kann. Dazu wird ein Schlauch in den Mund Ihrer Mutter eingeführt und ein Sog hergestellt, der möglichst viel angesammeltes Sekret absaugen soll.» Ich verstummte, hatte keine Fragen mehr, sah nur die Einbahnstraße auf der meine Mutter, hilflos in ihr Pflegebett gepresst, runterfuhr. Willenlos, entfremdet von der eigenen Persönlichkeit. Nicht mal mehr imstande, den Dreck zu schlucken, der ihr im Hals umgeht. Was sie wohl denkt? Ob auch die Angst durch sich auflösendes Denken weniger wird? Wenn nicht, was ist wohl das Thema ihrer Angst? Sterben? Hinterbleibende hinterlassen? Gott? Schicksal? Ich würde gern einmal in der Ruine ihrer Gedankenschemen spazieren gehen und die letzten Trümmer küssen, wertschätzen, was noch wertzuschätzen ist, und Liebe spenden, wo welche fehlt. Aber ich bin gefangen in dieser Welt der zuckenden Lebendigkeit, die so wenig mit ihrer Welt des passiven Verwesens zu tun hat.
Ich lief nach dem Telefonat sehr unruhig in meiner Wohnung umher, auf der Suche nach etwas, das wie eine aufgelegte Hand wirkte. Irgendetwas, in das ich mich schützend legen konnte, ein Versteck, ein Versteck in der eigenen Wohnung, in dem ich mich vor meinen kleinen Ängsten verstecken konnte. Ich dachte an meine Mutter, wie sie jetzt dalag, mehr tot als lebendig, unfähig zu erkennen, wer ich war, unfähig ein Gefühl zu mir zu haben. Und ich erinnerte mich an etwas, was ich mit meiner Mutter erlebt hatte, etwas, das eine ähnliche Hilflosigkeit provoziert hatte. Ich saß in einem Schulbus und ...
es stank. Es stank, wie es stinkt, wenn in einem Menschen mehr los ist, als von außen ersichtlich ist. Ich saß mitten im vollen Bus.
Ich war damals ein vierzehn-jähriger Fahrschüler, der jeden Tag einen halbstündigen Schulweg in überfüllten Nahverkehrsbussen in Kauf nehmen musste. Manchmal konnte man gut den Schultag hinter sich lassen während dieser Busfahrten, wenn man in seinem Walkman selbst zusammengestellte C90-Kassetten mit Aggressionsausbruch vermeidender Metalmusik rollen ließ. Damals gab es noch keine Amokläufe, zumindest keine dokumentierten und medial so krass analysierten wie heutzutage. Ich bin mir sicher, dass mich diese Kassetten vor so was wie Amoklaufen bewahrt hatten. Die gesunde Aggression, die ja in jedem Menschen meines Alters stattfand, die habe ich komplett mit brutaler Musik, dem etwaigen Abtreten von Außenspiegeln unnütz herumstehender Mercedes und dem Zerstören von Telefonzellen kompensiert. Erst später kamen Drogen dazu, auch nicht wirklich viele und wirklich schlimme, aber die aggressive Unruhe, die in pubertären Leuten stattfindet, kann durch die Gegengewalt von Metalmusik erübrigt werden. Diese Musik ist Teil der Evolution, es ist wichtig, dass es sie gibt, ansonsten wäre dieser Planet schon vor einiger Zeit von seinen Bewohnern verschrottet worden. An diesem einen Tag waren mir aber schon in der großen Pause die Batterien verblasst und aus halber Lautstärke
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