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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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aber sie war hier, hier mit uns, hier in meinem Herzen, in meinem Kopf. Sie war zwar die, die hier nicht mehr mitspielte, weil ich wusste, dass ihr Bewusstsein das nicht mehr würde registrieren können, aber ich hielt ihr Herz für nicht so steif, als dass sie nicht auch ein wenig Freude an der Freude meines Vaters gehabt hätte. Natürlich war es pure Mutmaßung, das zu denken, aber immerhin bestand die Möglichkeit. Wir konnten sie nicht mehr fragen, ob sie es wirklich gutfand. Aber das Glück meines Vaters war im Moment dominanter.
    Erika lächelte, ihr weißes Halstuch glänzte. Mein Vater rückte seine Brille zurecht. Der Kaffee duftete nach guter Erinnerung. Mein Vater, der Kämpfer, der, der immer kämpfte, bloß damit Ruhe war, damit ich eine Kindheit mit Ruhe und Gutsein hatte verbringen können, dieser Mann saß jetzt altersmilde vor mir und war mir jetzt doch ein Vorbild, weil er sich über die moralischen Gesetzmäßigkeiten, die um ihn lagerten, einfach hinweggesetzt hatte. Das tat gut, ihn so frei zu sehen, so frei, wie ich selbst noch nie war.
    Auf der Türschwelle lächelte ich über die Schulter meines Vaters hinweg Erika an. Dieses Lächeln sollte sie ermutigen, genauso weiterzumachen. Ich empfand keinen Groll, denn mein Vater war eine blühende Pflanze durch sie geworden, etwas spät zwar und auch die Blüte war nicht in voller Reife, aber immerhin war hier etwas passiert, was auch auf mich Einfluss hatte. Dann umarmte ich noch einmal meinen warmen Vater, dieses Mal etwas länger, und ich bemerkte auch, dass sein Umarmungsdruck etwas fester war als die zögerliche, aber immerhin präsente Umarmung, die er mir geschenkt hatte, als ich hier reingekommen war. Es war etwas passiert, und ich war nicht wütend, hatte nicht das Gefühl, das er vielleicht vermutete: Erika würde den Platz meiner Mutter einnehmen. Sondern ich erkannte genau das, was hier passiert war: Erika hatte meinen Vater vervollständigt, und ich ging mit einem Lächeln durch die Tür, durch die ich gekommen war. Es war seltsam, ganz seltsam alles, aber trotzdem voller Güte und so sonnengetränkt wie frische Erdbeeren.
    Mein Vater und ich, wir hatten uns wieder Körperkontakt angewöhnt, ungewohnt das, aber darin lag ein Reiz. Der Reiz, das Grau zu überwinden, das uns jahrelang ausgemacht hat. Altersmilde. Kein Vergeben oder Vergessen, aber der Effekt der leichten Einsicht in bislang undurchdringbare Gefilde. Da war noch Seele übrig. In meinem Vater, in mir, kleine Restbrocken Seele, mit denen wir uns an diesem Nachmittag gegenseitig gefüttert hatten.
    Jetzt galt es noch, meine Mutter zufriedenzustellen. Und außerdem und vielleicht dadurch: mich. Das war natürlich schwierig, weil sie nicht mehr wirklich reaktionsfähig war. Wie stellt man Sterbende zufrieden? Was brauchen Leute, die dem Tod näher als dem Leben sind? Machen Gespräche, in diesem Fall Monologe, noch zufrieden? Man kann doch keinerlei Perspektiven eröffnen, wenn man selbst nicht weiß, was da ist, wo der Sterbende hinsoll? Die Frage nach Gott ist irrelevant, die Frage nach der Angst umso interessanter. Und bedrohlicher. Die Angst ist ein Horizont aus Krieg und Gewitterfront. Man hört nur die Geräusche aus der Ferne und kann imaginieren, was da passiert, wo es blitzt und explodiert. Hingehen will man da eigentlich nicht, aber der Weg führt nur geradeaus, hinter einem wächst er sofort wieder zu, der Weg, und es geht nur vorwärts, und da ist Krieg und Gewitter sowie Armut und Demut und anderer Morast, der schwer zu durchschreiten sein wird. Aber es geht nur nach vorn, andere Wege existieren nicht.
    Ich war glücklicher an diesem Tag, glücklicher als meistens. Diese Begegnung hatte mich angefüllt mit Gutheit, mit Richtigkeit, mit der Erkenntnis, dass da etwas Fühlbares war, etwas Familiäres existierte. So richtig randvoll angefüllt mit guten Emotionen aus scheinbarer Ehrlichkeit hatte mich dieser Tag.
    Auf dem Heimweg fiel das Glück langsam wieder von mir runter, wie ausgekämmte Haare blieb es in der Haarbürste des Lebens hängen. Gesundes Haar, so sagt ja der Volksmund, braucht hundert Bürstenstriche pro Tag, gesundes Leben braucht mindestens einen guten Gedanken am Tag.
    ***
    Tage später saß ich zu Hause und dachte. Dachte wieder mal um Ecken, schaute hinter diesen Ecken nach Beweggründen für dieses Leben. Wollte durch das Denken Fülle in mein Leben bringen wie Schaumfestiger in Frisuren. Die unerträgliche Schwierigkeit des Meins. Ein beinloser

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