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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Eschenbach. Der verfliegt immer mit dem Erzählen, nicht nur, wenn von Schamanen die Rede ist. Er wollte dann aber doch wissen, wie lange sie zusammen gewesen waren.
    Gut einen Monat in New Mexico und Arizona, zwei Monate hier in Berlin. Und da Harald es schon erzählt habe, könne sie jetzt auch reden. Sie war, als sie in Albuquerque den Hopi-Schmuck studierte, mit einem amerikanischen Freund, Tom, den sie dort kennengelernt hatte und der in der Werbebranche arbeitete, zu solch einer Tour in die Rocky Mountains aufgebrochen. Was natürlich gefährlicher war als hier, wo immer ein Förster in der Nähe ist. Und Harald hatte sie weit mehr fasziniert als der gut aussehende, aber langweilige Tom, der seinen Witz in seinem Beruf verbrannt hatte und sich nun in der Wildnis bei diesem Frontier-Leben neue Inspiration erhoffte. Es war schon in der zweiten Nacht dazu gekommen.
    Wozu?
    Na, zu der Begegnung mit Harald.
    Wie war er, konnte sich Eschenbach nicht zügeln zu fragen.
    Gut. Und wenn du meinst, wie er auf dem Blätterboden war, sehr gut. Sehr ruhig. Zärtlich. Ein guter Liebhaber. Ich mochte ihn gleich. Hab dem Werbefritzen auch nichts vorgemacht. Einfach am dritten Tag abserviert. Der musste mit einem Hubschrauber ausgeflogen werden. Hatte einen Totalzusammenbruch. Brauchte seinen Psychoanalytiker. Das war wie in einem Woody-Allen-Film.
    Die Stiefel aus Schlangenleder – ist das nicht verboten? Artenschutz?
    Nein. Notwehr. Eine Kobra, die er mit den Händen erwürgt hat.
    Warst du dabei?
    Nein.
    Wie kommt der zu dem Namen Harald?
    Mein erster deutscher Freund hieß so. Habe ich übernommen. Sein richtiger Name ist ein Zungenbrecher.
    Und warum die Trennung von dem Schamanen?
    Weil er ständig was mit den Frauen hatte. Nicht er fing an, sie fingen mit ihm an, so wie ich auch. Er lernt die Sprachen intuitiv, wie ein Kind, sehr schnell. Aber da war noch was, es war etwas sehr ruhig auf die Dauer mit ihm und seinen Ahnen.
    Dann nuschelte sie schon im Halbschlaf: Komm!

    Er hatte sich einen der beiden alten Cocktailsessel, die einer seiner Vorgänger auf die Insel geschleppt hatte, auf das Podest gestellt und las in Falling Man von Don DeLillo. Durch das Fernglas sah er über das Meer zu der Insel Neuwerk hinüber, die eingedeicht und von Bäumen und Büschen bestanden war. Zwischen den Bäumen ragte der massive viereckige Wehrturm hervor, aus Ziegeln im 13. Jahrhundert gemauert. Oben auf dem Turm war ein kegelförmiger Aufbau, mit grünem Kupfer belegt, das Leuchtfeuer, das nachts in Weiß, Rot und Grün und in Sekundenabstand den Schiffen den Weg zur Elbe wies.

    Vor neun Tagen waren zum letzten Mal Besucher herübergekommen. Der Wattfahrer hatte eine Gruppe von sechs Leuten gebracht. Eschenbach hatte durch das Fernglas das langsam näherkommende Pferdefuhrwerk beobachtet, wie es durch die Priele zog, hatte dann, das gehörte zu seinen Obliegenheiten, Wasser aufgestellt und Kaffee für den Wattfahrer gemacht. Er hasste diese Besuche. Sie waren für ihn keineswegs eine Abwechslung. Die Besucher mussten unter seiner Führung den schmalen, mit Brettern ausgelegten Pfad zur Hütte hinaufgehen.
    Dort begann Eschenbach mit seiner Erklärung: Scharhörn war schon im Mittelalter als ein gefährliches Riff bekannt. Ein Schiffsfriedhof. Und er ließ die Leute durch das auf einem Stativ befestigte schwenkbare Fernglas blicken, dort, dort drüben, zeigte er, wo schon seit Jahren ein Frachtschiff schräg und teils eingesandet lag. Eine Insel, die wandert, was im Westen von Flut und Strömung an Sand abgespült wird, lagert sich im Südosten an. Eschenbach zeigte anhand einer Schautafel die sich verändernden Umrisse der Insel. Die Nachbarinsel Nigehörn, die 1989 aufgeschüttet worden war, wächst in Richtung Scharhörn. Dazwischen bilden sich Queller und Schlickgras, daran schließen sich Salzwiesen an, im Sommer bunt blühend und blumig duftend.
    Er zeigte ihnen Brandseeschwalben, Austernfischer und Ringelgänse, die hier, von Nordsibirien kommend, Zwischenstation machen. Und er versuchte, die Fragen zu beantworten, es waren fast immer dieselben Fragen: Ob er Angst vor Sturmfluten habe? Was er am meisten vermisse? Fernsehen? Kino? Kneipen? Nein. Nein. Nein. Freunde? Hin und wieder, selten. Gibt es Säugetiere auf der Insel? Ja, Mäuse. Wie sind die hierhergekommen? Wahrscheinlich mit dem Schiff, als die Hütte gebaut wurde. Vermehren sie sich nicht ungebremst? Nein, es gibt Sumpfohreulen. Ratten? Nein. Singvögel? Ja. Drosseln,

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