Vogelweide: Roman (German Edition)
Gegenübersitzende, durch das Benennen zu berühren. Eine Wortfeier: Lippen, dort, wo sie sich treffen und ihren Schwung nehmen, das Haar, ein elektrisches Kraftwerk, sie lachte, die Nase ohne Fehl, Hals, dort die Salzfässchen, rechts, links, Hände, Fingernägel, Ellipsen des Apollonios, Handgelenk, was für ein wundersames Wort, das Wort Handspanne, so weit waren sie voneinander entfernt, eine Spanne nur über den Tisch, im Anblick der Umsitzenden, Dahinredenden, aber dann hatte sie seine Hände genommen und geküsst. Und als er ging, weil er gehen musste, zu einem Treffen mit Geschäftsfreunden – als ob es Freunde im Konkurrenzkampf gäbe –, da war sie noch sitzen geblieben.
Für ihn war es stets eine peinigende Vorstellung, allein in einem Restaurant sitzen zu bleiben, ein Zurückbleiben wie ein Verlassenwerden. Ein Ausgesetztsein zwischen neugierigen Fremden.
Er dachte zunächst, noch kannte er sie nicht, kannte nicht ihre Stärke, ihre Unabhängigkeit, er dachte, sie erwarte vielleicht jemanden, habe noch eine Verabredung, aber als er sie beim nächsten Treffen fragte, sagte sie, nein, sie habe nur dasitzen und aus dem Glas trinken wollen, an dem seine Lippen gewesen waren.
Zwei Tage später hatte er sie erreicht, und sie hatten sich abermals in ihrer Bar verabredet. Sie erzählte von einer Kunstausstellung, einer wichtigen, aber er konnte sich später weder daran erinnern, welchem Künstler sie galt, noch, was sie daran so erregend fand. An dem Tag sagte sie, ich habe heute meinen Mann betrogen. Mit dir. Ich habe mit ihm geschlafen, aber dich in den Armen gehalten, deutlich spürbar, deine Haut, deine Hände, dein Geruch. Und nach einem Schweigen, ohne ihn anzusehen, sagte sie: Beide haben wir Glück. Lieben unsere Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe. Das ist zutiefst unmoralisch, man ist glücklich und will noch mehr. Das ist maßlos.
Er lobte daraufhin die Maßlosigkeit. Sagte, hier, spüre, hier den Herzschlag, hier die Sprache, hier an deinem Hals, an dieser Ader, wenn ich sie berühre, spüre ich dein Herz. Das ist der maßlose Grund.
An dem Tag waren sie zu ihm gegangen.
Ein tastend staunendes, von Zweifeln begleitetes Zusammensein.
Am nächsten Abend klingelte sein Handy, er sah ihre Nummer, wollte sagen, endlich, dann aber hörte er Ewalds Stimme, und die Enttäuschung, aber auch der Schreck darüber, nicht sie, sondern ihn zu hören, nahmen ihm für einen Moment den Atem, und er vermutete, Ewald könne alles erfahren haben. Wie gehetzt sagte er auf die Frage, wie es ihm gehe: Gut, sehr gut, ist viel zu tun, aber das kennst du ja.
Ewald sagte, da sie, er und Anna, in seiner Serengeti-Lodge gewesen seien, sei es jetzt an der Zeit, dass Selma und er zu ihnen kämen. Konkret, wie ist es mit dem Wochenende?
Ein abermaliger Schreck, die Vorstellung, sie in Ewalds Gegenwart wiederzusehen, ließ ihn, als könne er damit das Treffen abwenden, lügen, das Wochenende sei ganz ungünstig, da er einen Termin habe.
Gut, dann in der Woche. Bis auf den Montag könne Eschenbach jeden Tag frei wählen.
Kurz überlegte er, ob es eine Ausrede für diese ganze Woche gäbe, dann sagte er, gut, wie wäre es mit Donnerstag?
Selma, kann sie an dem Tag?
Glaube ja. Sonst melde ich mich.
Top, sagte Ewald und beschrieb ihm den Weg. Wir freuen uns sehr auf euch.
So sollten sie sich also wieder zu viert treffen. Gerade einmal ein Tag war vergangen, und doch hatte sich alles verändert, dieses Wissen von der gemeinsamen Nähe, seiner und Annas, die andere ausschloss, die ihn irritierenden Frage, wie er, wie sie, Anna, wie beide den beiden anderen entgegentreten würden.
Er hatte sie auf ihrem Handy angerufen, und sie hatte gesagt, sie habe die Einladung nicht verhindern können. Es tue ihr leid. Sie sagte aber nicht, was ihr leid tat. Sie war förmlich und knapp am Telefon, sagte abschließend, sie müsse sich jetzt um die Kinder kümmern. Bis dann.
Wie beherrscht das klang. Wie distanziert. Bedauerte sie ihr Zusammensein? Ein Ungeschehenmachen, indem man es nicht zur Sprache bringt?
Er hatte Selma in den Tagen vor der Einladung am Donnerstag nicht getroffen, hatte gesagt, er müsse dringliche Arbeiten erledigen, was auch der Fall war, hatte sie dann abgeholt und auf dem Hinweg fahrige Antworten auf ihre Fragen gegeben, sodass sie schließlich sagte, jetzt reiß dich mal zusammen, sie, ausgerechnet sie, benutzte diese ihm von seiner Kindheit her so vertraute deutsche Wendung:
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