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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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bewusst ist. Er ist der Rebell. Der Mann des Widerspruchs. Der Prophet, der Nein sagt. Der Versager.
    Wieso Versager?
    Gott befahl Jonas, nach Ninive zu gehen, um dem verderbten Volk zu sagen, er werde es mit Vernichtung strafen. Jonas entzieht sich dem Befehl, geht auf ein Schiff, das Schiff gerät in einen Sturm. Die Matrosen werfen Jonas ins Meer, um den erzürnten Gott zu beschwichtigen. Jonas wird von dem Wal verschlungen und nach drei Tagen an das Land gespuckt, wohin er nach Gottes Wille gehen sollte. Er verkündet seinen Auftrag. Gott aber verzeiht der Bevölkerung. Was Jonas empört. Gott hatte etwas angekündigt, hatte ihn auf einem komplizierten Umweg zum Ziel gebracht. Und jetzt war die Ankündigung nicht mehr gültig. Er ist als Prophet aufgetreten, und nun soll seine Prophezeiung nicht Wirklichkeit werden. Jetzt will Jonas seinen Willen. Wiederum gegen den Willen Gottes. Dagegen ist Gott machtlos. Dieser Prophet ist ein Rebell gegen Gott. Jemand, der sich nicht fügt, nicht fügen will. Ein Prophet, der gegen die Allmacht Gottes protestiert. Erst durch seine Flucht. Dann greift er zum letzten Mittel, dem Wunsch zu sterben. Nichts stellt den Willen Gottes, durch den die Schöpfung ist, derart infrage wie die Selbsttötung. Ja, die Selbsttötung, allein der Wunsch danach widerlegt den Schöpfer. Jonas war der Protestant unter den Propheten. Er wollte, das Wort Gottes solle das rechte sein, nicht das nachsichtig verzeihende. Nicht der gemütliche, umzustimmende Alte, sondern sein Wort sollte Gesetz sein.
    Und das andere, was ihn interessiere, sei die Darstellung dieser Szene. Jonas wird nach drei Tagen von dem Walfisch an Land gespuckt, eine Szene, die für die Auferstehung stehe. Er wolle zeigen, sagte Eschenbach, wie mit immer genauerer Kenntnis des Walfischs, der im Alten Testament nur der große Fisch heißt, also mit seiner verfeinerten naturalistischen Darstellung, das Gleichnis notwendig an Kraft verlor, und zwar nicht wegen des etwas schlichten Einwands, dass es so etwas nicht gibt, es also unrealistisch ist, dieser Realismus interessiere ihn nicht, der sei langweilig, sondern weil das zeichenhaft Wunderbare im Wort ist, und je ferner die Darstellung des Ungetüms von der bekannten Welt liegt, desto näher ist das Erschrecken des ganz Einmaligen, Gottes Wort.
    Er erzählte Anna diese Geschichte, eine wahre Geschichte aus dem 19. Jahrhundert: Der Matrose eines englischen Walfängers war vor den Falklandinseln über Bord gefallen und von einem Wal verschluckt worden. Nachdem die Kameraden das Tier harpuniert hatten, war der Mann im Magen gefunden worden, schlafend, wie es hieß, die Kleidung, die Jacke, die Hose, die Leinenschuhe schon leicht verdaut. Er aber war noch heil.
    Kein schlechtes Bild für die Unsterblichkeit.

    Die warme Abendluft drückte durch die offenen Fenster in die Bar. Sie hatten nicht viel getrunken, jeder zwei Gläser Weißwein, da sie aber noch nicht gegessen hatten, waren sie, vor allem er, Christian, sie hatte ihn erstmals bei seinem Vornamen genannt, in eine Stimmung gekommen, die eher an die Ausschüttung des Heiligen Geistes erinnerte, die Zungen lösten sich, zerteilten sich, wie es in der Apostelgeschichte hieß.

    Als er sie am nächsten Tag anrief, sagte sie, sie wolle ihn nicht mehr allein treffen. Sie bat ihn, sie nicht mehr anzurufen. Ewald habe sie gefragt, wo sie gestern Abend gewesen sei, eine ganz unverfängliche, keineswegs misstrauische Frage, und darauf habe sie in einem Moment der Unsicherheit und aus einem schlechten Gewissen heraus, warum, wisse sie selber nicht, da ja nichts passiert sei, gelogen und gesagt, sie sei in der Kunsthalle gewesen, was ja richtig war, aber auch wieder nicht, weil sie das Treffen in der Bar nicht erwähnt habe. Eine Unterschlagung, die, einmal passiert, nicht wieder rückgängig zu machen war, jedenfalls nicht in dem Moment.
    Ihre Bitte war sehr entschieden gewesen.
    Sie hatte aufgelegt und sogleich hatte er nochmals versucht, sie anzurufen. Ihr Gerät war ausgeschaltet.
    Nach zwei Tagen hatte er sie wieder erreicht und sie überzeugt, sich zu treffen, sie müssten sich sehen. Einfach, um sich auszusprechen. Er hatte gesagt, zu klären. Das schlösse die Möglichkeit, alles abzuschließen, ein. Sie hatte gezögert und dann zugesagt.
    Am Abend hatte ihn Selma am Telefon beschimpft, weil er nicht mit ihr ins Kino gehen wollte. Es war einer ihrer Wutanfälle, bei denen er, wenn sie ihn am Telefon bekam, den Hörer weit vom Ohr

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