Vogelweide: Roman (German Edition)
das Gesicht und muffelte vor sich hin.
Eschenbach beobachtete Anna, die leise mit Lisa sprach, und er dachte, was habe ich getan, in was bin ich, sind wir hineingeraten? Diese freundliche, einander zugewandte Familie infrage zu stellen.
Anna bat Lisa, etwas aufzusagen, sie lerne gern auswendig – und zwar freiwillig. Sie will später Schauspielerin werden. Jetzt spielt sie das Pünktchen in der Schule. Aber auch sie sagte, ach nee , jetzt nicht.
Eschenbach erinnerte sich eines Mädchens, das er als Schüler verehrt hatte, die in einem Stück über die Entdeckung Amerikas den Columbus spielte. Er hatte sich jede der vier Vorstellungen angesehen, aber nicht den Mut gehabt, das ein Jahr ältere Mädchen zu einer, wie er fand, gewagten Coca-Cola einzuladen.
Die Kinder verabschiedeten sich höflich, gaben die Hand, und Eschenbach sah, wie sehnsüchtig Selma ihnen nachblickte.
Anna hatte gekocht, geschmorten Kalbsrücken. Es war ein ruhiger Abend, der Wein, wie nicht anders zu erwarten, ausgezeichnet und die Gespräche waren im Gegensatz zu dem Abend in seiner Serengeti-Lodge ernst und nachdenklich, vielleicht, weil Eschenbach und Anna im Wissen um ihre die anderen ausschließende Gemeinsamkeit stiller waren, vielleicht aus schlechtem Gewissen, vielleicht aus Vorsicht, wahrscheinlich aus all diesen Gründen.
Eschenbach wurde wieder einmal nach seiner Arbeit gefragt, eine Arbeit, die letztendlich darauf hinauslief, Entscheidungen in der Wirtschaft, in der Politik, die durch Informationsvernetzung zu unvorhergesehenen Folgeerscheinungen führen konnten, zu strukturieren. Eine neue hochkomplizierte Unübersichtlichkeit, die in eine schnelle Übersichtlichkeit transponiert werden müsse.
Sie seien dabei, ein Programm zu entwickeln, das die Kommunikation zwischen Gemeinden und Bürgern ermögliche, sodass Entscheidungen, Daten, Projekte einsehbar wären, Fragen gestellt, auch Informationen untereinander ausgetauscht werden könnten, wobei allerdings bestimmte Bereiche ausgeschlossen blieben. Die seien wiederum nur von der jeweiligen Behörde einzusehen, Vorstrafen zum Beispiel. Hört sich einfach an, ist aber ziemlich komplex, was also wann zugänglich und was für wen ausgeschlossen sein soll. Das ist nichts Neues, sondern erfasst nur die bürokratische Wirklichkeit, jetzt allerdings elegant optimiert.
Und keine Gegenwehr?
Kontrollsysteme, demokratische, die der Einzelne abrufen kann.
Nachdenkliches Nicken in der Runde. Das sind Beispiele aus der Anwendung, sagte Eschenbach, noch überschaubar und gemütlich. Das Problem ist, dass Big Data, diese Fülle der Informationen, transferiert, zerlegt, automatisch weitergeleitet und nach strategischen Aspekten zusammengesetzt werden, je nach Interessen, ökonomischen, militärischen, politischen. Ein System, das sich verselbstständigt hat. Es geht auch nicht mehr um Wissensvermittlung, sondern um kommerzielle Verwertung. Da ist etwas aus der Kontrolle geraten. Ihr kennt das Problem vom Finanzmarkt und der so hilflos agierenden Politik.
Und Gegenwehr?
Eschenbach lachte und sagte: Anna, gestehe, du denkst an den Hacker, der den Börsencomputer lahmlegt. Aber das ist nur Software-Romantik. Nein. Ich habe keine Antwort, jedenfalls keine einfache.
Während des Gesprächs hatte Anna ihn einmal angesehen, und er glaubte, beide, Selma und Ewald, müssten es bemerkt haben, wie ihre Augen ihn nicht nur sahen, sondern wussten und feierten.
Selma und Ewald jedoch hatten sich wieder einander zugewandt und redeten in Andeutungen, von denen Eschenbach wiederum wusste, dass sie sich auf den Armreif bezogen, den Selma mitgebracht hatte und der Anna zum Geburtstag geschenkt werden sollte.
Es waren hier auf der Insel nicht nur die vertrauten, seit langem bekannten Geister, die ihn besuchten, sondern auch Zufallsbekanntschaften, selbst solche, die ihn mit Zorn, Verachtung, sogar Hass erfüllten. Je stärker die Bilder von den Neuronen aufgeladen worden waren, desto deutlicher kamen sie ihm hier wieder in die Quere. Wie die in einem ICE gesehenen beiden Frauen, die sich laut und dreist unterhielten, insbesondere die eine mit den schwarz gefärbten Haaren, die Füße demonstrativ in den Durchgang des Waggons gestreckt, Sneaker mit einem unleserlichen Firmenaufdruck, jedes Mal wieder starrte er ihr auf die Schuhe. Vielleicht war das der Sinn dieser Marke, ein heftig goldglänzender Riegel schloss die Schnürsenkelleiste ab, die Jeans, die modische Militaryjacke, Bestlage,
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