Vogelweide: Roman (German Edition)
halten musste.
Er hatte dann das Gefühl, das Handy glühe, und in ihr Deutsch mischten sich polnische Ausdrücke, wahrscheinlich harte Schimpfwörter, aber auch das, was er verstand, reichte aus, seine zufällig neben ihm stehende Assistentin aus dem Raum zu treiben: Egoist. Ach, der Herr hat keinen Bock. Aber ich soll für dich da sein. Jederzeit. Die Abruwuauu.
Was, fragte er.
Ich bin die Abruf-Frau, buchstabierte sie ihm ins Handy. Wenn es dir passt, soll ich da sein. Aber wenn ich mal etwas will, willst du nicht. Dann heißt es: kann nicht. Dann heißt es: geht nicht. Termine. Treffen. Sitzungen. Und komm mir jetzt nicht mit deiner Arbeit. Ich arbeite auch, verstehst du!
Und damit verschwand ihre Stimme aus seinem Ohr. Auch das war Selma, sie konnte sich in Raserei reden, beruhigte sich aber auch nach kurzer Zeit wieder. Später wurde mit einem Schon gut ihr Zornausbruch beiseitegeschoben. Allerdings wurde dadurch auch nie länger über die Gründe ihrer Empörung geredet.
Am nächsten Tag hatte er einem Informatiker kündigen müssen. Den jungen Mann, der freundlich und verbindlich war, hatte er schon einmal abgemahnt, weil er bei einem Projekt fehlerhafte Daten eingespeist hatte. Die Firma, eine große Molkerei, für die sie die Software erstellt hatten, war durch den Fehler in der Zulieferungsberechnung von Frischmilch in Schwierigkeiten geraten, da plötzlich nicht mehr ausgelastet produziert werden konnte, fast eine Woche lang. Der Schaden war beträchtlich gewesen.
Jetzt hatte der Mann, ohne böse Absicht, über einen Kunden geredet und auch Details ausgeplaudert, beiläufig, aber unter Nennung des Namens. Das Gebot der strikten Verschwiegenheit war gebrochen worden.
Eschenbach hatte sich am Morgen auf das Gespräch vorbereitet, hatte sich vorgenommen, keine Verbindlichkeit am Anfang zuzulassen, hatte sich innerlich hart gemacht, sich in einen Zorn hineingeredet, für sich die abwertenden Wörter wiederholt, von denen er keines im Gespräch verwenden wollte: Quasselei, Kaffeeschwester, Schwadronierer, Prälater, ein Wort aus gut lutherischer Zeit, Geschwätzigkeit.
Eschenbach rief den Mann in sein Büro und sagte, obwohl sie sich duzten: Setzen Sie sich. Sie sind gekündigt. Sie wissen, warum.
Der Mann war von dem veränderten, sonst kollegial freundlichen Eschenbach derart verunsichert, dass er Ja sagte.
Tut mir leid, sagte Eschenbach und zeigte auf die Tür.
Danach trank er, was er sonst nie während der Arbeit tat, einen Whisky und war nicht einverstanden mit sich, obwohl er alles richtig gemacht hatte.
Er traf Anna wieder in ihrer Bar, wie er diesen Ort nannte, wobei er mit dieser Wendung sie beide ein- und alle anderen ausschloss. Er war früher gekommen und hatte schon ein Glas Rotwein getrunken. Jetzt saßen sie einander gegenüber, und sie sagte ihm, wie leid ihr alles tue, wie sie die kleine Lüge bereue, auch wenn nichts zu Verschweigendes vorgefallen sei, und sie bat, man solle sich nicht mehr allein treffen, wobei ihm – und doch auch ihr – sogleich deutlich werden musste, dass schon diese Bitte, dieses Hier-Sitzen erneut ein Verschweigen nach sich ziehen musste. Ganz notwendig war schon diese Aussprache gegen Ewald gerichtet. Sie hatte ihm gesagt, was die Ehe für sie und Ewald bedeute. Dass erst durch sie diese Beliebigkeit des Begehrens unterbrochen werde. Es war ein Wort, das ihn aufhorchen ließ, von dem er noch nicht wusste, dass es einmal Gegenstand seiner Befragungen und Recherchen werden würde. Und er hatte damals gesagt, dass gerade dieses Sehnsuchts-Alter-Ego – was für ein gestelztes Wort, dachte er später – doch nicht beliebig sei. Dass es uns auf so rätselhafte Weise festlegt in unseren Wünschen. Wünsche, die sich allen Vorsätzen und moralischen Vorstellungen widersetzen. Und alle angeführten Gründe sind ganz hilflose Versuche, den Wunschreaktor zu verstehen. Es ist der Hunger und der Durst des Körpers nach dem Körper. Aber nicht auf einen beliebigen, sondern auf den einen, den einzigen, den, von dem wir hoffen, durch ihn selbst reicher zu werden, als schöne Ergänzung unserer selbst.
Auch sie hatte diesmal ein Glas Rotwein getrunken und saß mit rotem Gesicht da, als wäre sie atemlos nach einem langen Lauf hier am Tisch angekommen, einem kleinen rechteckigen Tisch, und er hatte das Gefühl, außer sich zu sein. Er sah sie an und sagte Sätze, die keiner Überlegung bedurften, kurze Sätze und Hauptwörter, wie sie Kinder benutzten, um sie, die
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