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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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mit dieser Frau, die ganz banal alles bestätigt, was sie erwartet hat, eine jüngere Frau, aber nicht so jung, dass es peinlich wäre, ihr Mann hat einen guten Geschmack, sie ist fast so groß wie er, ein kurzes Kleid, etwas Teures, wie man an Schnitt und Muster sieht, ausgeschnitten, bewegter Busen, wippende Frisur, Stilettoabsätze, die beiden gehen zu den Aufzügen. Sie steht auf und steigt hinter ihnen in den Fahrstuhl. Ihr Mann dreht sich zu ihr um.
    Das Gesicht ihres Mannes – die Reise hatte sich gelohnt.
    Dagegen bleibt das Gesicht der Ärztin freundlich nickend unbeteiligt. Der redegewandte Rechtsanwalt ist stumm. Die Ehefrau sagt Guten Tag. Ich bin die Frau von G. Daraufhin fragt die Geliebte wie in einem Woody-Allen-Film, können Sie Ihren behinderten Sohn denn so allein zu Hause lassen?
    Wieso behindert, fragt die Ehefrau.
    Danach alles wieder recht normal. Trennung, Scheidung. Der Mann heiratet die Geliebte, die ihm die, wie er sagt, Verzweiflungsgeschichte vom behinderten Sohn verzeiht. Sie arbeiten auf ein eigenes Kind hin. Der Erfolg war zur Zeit der Aufzeichnungen noch nicht zu sehen.

    Übertreibung? Erfindung?
    Nein. Der Alltag. Etwas ungewöhnlich, zugegeben. Die beiden waren sich ja buchstäblich in die Arme gelaufen. Und was war ihm aufgefallen? Ihre Augen. Ihr Lachen. Nein, alles.
    Und da erzählte die Demoskopin, dass sie, als sie sich im Reichssender Königsberg als Praktikantin vorstellte, in einem Durchgangsraum gewartet habe, in dem immer wieder eine Tür aufging, ein Mann hereinkam, Guten Tag sagte, das Zimmer durchquerte und durch die gegenüberliegende Tür wieder hinausging. Der Nächste kam, nickte freundlich, starrte sie an und ging durchs Zimmer. Später hatte man ihr erzählt, dass einer dem anderen gesagt habe, da draußen warte eine hübsche junge Frau. Eine Sehenswürdigkeit. Das war Ostpreußen.
    Anziehung ist doch ebenso deutlich wie Ablehnung. Adorno, sagte sie in einer plötzlichen Wendung, den sie für den Verfall der Werte im Nachkriegsdeutschland verantwortlich machte, sei ihr zutiefst zuwider gewesen. Er habe sie immer bei Gesellschaften, wo sie nicht ausweichen konnte, körperlich bedrängt.
    Und als sie seinen erstaunt ablehnenden Blick sah, fuhr sie unvermittelt mit einem merkwürdigen, nicht nachvollziehbaren Gedankensprung fort: Niemals Botox. Wirklich nie. Auch nicht die Haare färben. Die Zähne, ja, die muss man sich machen lassen. Das ist wichtig. Mehr als alles andere. Und nie, wirklich nie, wenn die Haare grau werden, sie schwarz färben. Das ist – und dann kam abermals eines dieser Youngster-Wörter aus ihrem Mund – unterirdisch. Ja, so etwas konnte sie gut artikuliert in ihr Hypotaxe-Deutsch einstreuen.

    Am Abend rief er den Freund an, erzählte ihm von seinem Treffen und sagte, du musst dir das vorstellen, sie, die vom Propagandaminister Umworbene, fühlt sich jetzt von dem zurückgekehrten jüdischen Emigranten bedrängt. Eine Umkehrung der Rollen. Das schlechte Gewissen musste ihr von außen aufgezwungen werden. Wunderbar, wie sie dann noch auf die protestierenden Studenten und den Werteverfall schimpfte. Meine beiden Alten in ihrem Rentnerheim hätten ihre Freude gehabt.
    Hast du die Norne mal nach ihrem Freund Adenauer gefragt?
    Ja, der hat für ihre Augen geschwärmt und sofort die Bedeutung der Meinungsforschung erkannt. Kurt Schumacher, dem sie ihre Dienste zuerst angeboten hatte, wollte nicht.
    Und was will die von dir?
    Ich glaube, sie will, dass ich ihre Biographie schreibe.
    Der Freund lachte: Bung her in the bin!
    Ja, ich stampfe das Ganze in die Tonne, samt Äpfeln. Ich mache Schluss. War interessant, weil so durchgeknallt. Aber es reicht.
    Und das Geld?
    Wäre sowieso beim Insolvenzverwalter gelandet.

    Zwei Tage später rief er die Meinungsforscherin an, auf ihrem privaten Handy, morgens. Er sei aufgestanden.
    Was?
    Von der Tafelrunde. Er sei ab sofort nicht mehr an dem Projekt beteiligt.
    Und warum?, fragte sie spitzstimmig.
    Die Richtung gefällt mir nicht.
    Hat es mit unserem letzten Gespräch zu tun?
    Das auch, sagte er und schwieg. Es war ein langes Schweigen. Er hörte ihren Atem.
    Schließlich sagte sie: Gut. Dann stellen Sie mir eine Rechnung.
    Ich verzichte.
    Na denn, sagte sie und legte auf.
    Dieses Nadenn war das Letzte, was er von ihr gehört hatte.

    Nur einmal war er mit Anna zwei Nächte hintereinander zusammen gewesen. Zwei Nächte, die sie viel Arbeit und Vorbereitung gekostet hatten, an Planung, Einteilungen. Das

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