Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
Vom Netzwerk:
Schüsse, Gebrüll, mit Musik durchmischt, wahrscheinlich gab es zwei Geräte, eines für die Kinder, eines für die Frau.
    Die Sozialfürsorgerin hatte ihn einmal mit der Bitte angesprochen, einen Schlüssel für diese Wohnung zu verwahren, wobei die Schlüsselvergabe an Fremde eigentlich nicht erlaubt sei. Sie bat ihn dennoch darum, da die Mutter ihre Kinder einschloss und hin und wieder, hatte sie zu viel getrunken, eine Nacht fortblieb. Falls es mal zu einem Brand käme, sei es besser, wenn jemand im Haus einen Schlüssel habe. Tatsächlich liefen in der Wohnung, die wie seine nur eineinhalb Zimmer hatte, zwei Fernseher. Das ist normal, sagte die Fürsorgerin, das Problem für die Stromrechnung sei, dass der Kühlschrank meist offen stehe, und da die Frau in der Dunkelheit nicht schlafen könne, weder nüchtern noch im betrunkenen Zustand, müsse überall Licht brennen. Und die Kinder, hatte er gefragt. Haben sich daran gewöhnt.
    Ob die beiden Schäferhunde, die, wenn es geregnet hatte, derart stanken, dass man es durch die Wohnungstür im Treppenhaus riechen konnte, nicht eine Gefahr für die Kinder seien?
    Nein, sagte sie, die bekämen im Gegensatz zu ihnen regelmäßig ihr Futter. Die Hunde seien satt, man müsse sich keine Gedanken machen.
    Und ein Heim?
    Besser nicht. Glauben Sie mir, am besten ist immer noch die Mutter. Sie schlägt die Kinder nicht. Das ist schon mal was. Sorgt für Lebensmittel, kocht hin und wieder. Und sie ist ja, wenn auch angetrunken, meist nachts da. Das ist allemal besser als ein Heim. Die Kinder, die Mutter und die Hunde sind eine verschworene Gemeinschaft. Oft holen die Kinder mit den beiden Schäferhunden ihre Mutter aus der Kneipe.
    An einem Abend hatte er die ganze Familie im Treppenhaus getroffen. Ein Hund lief wie auf Erkundung voraus, die Mutter wurde von der Ältesten gestützt. Der ältere Bruder ging hinter der Frau, die sich mit einer Hand an dem Geländer, ja was, abstützte oder hochzog, der Jüngste trug ihr die Tasche nach, und hinter ihm lief als Nachhut der andere Hund.
    Eschenbach läutete, läutete Sturm. Er alarmierte die Feuerwehr. Die durfte nicht in die Wohnung eindringen. Die Polizei kam, auch die durfte nicht einfach in die Wohnung. Inzwischen hatte ein im Parterre wohnender Mann die Mutter aus der nahegelegenen Kneipe geholt.
    Die Kinder hatten vergessen, das Wasser in der Badewanne, in der sie Schiffchen schwimmen ließen, abzustellen.
    Wie gut, sagte sich Eschenbach, dass alles gepfändet worden war. Die paar Sachen, den Lesesessel, seinen Computer, die Lampe, ein paar Bücher konnte er, nachdem er die Sicherungen herausgedreht hatte, auf den Tisch und das Bett stellen.

    Keine Revolution, kein Gedanke daran, hier, nirgendwo, glaub mir, hatte er zu seinem Vater gesagt, als der wieder einmal behauptete, die Verhältnisse seien unhaltbar. Nein, überhaupt nicht, ihr lebt hier fern der Welt in eurem Rentnerparadies.
    Die Mutter sagte, nein, die Menschen sind narkotisiert. Sie können alles kaufen, und die, die es nicht können, glauben, sie könnten es schon bald. Das ist die Ordnung.
    Man macht sie glauben, ergänzte der Vater, sie wüssten, was sie wollen. Sie sind sediert. Aber wer weiß, sagte der Alte, wie schnell können sich die Dinge ändern. Nimm den arabischen Frühling. Die Despotie schien wie für ewig festgefügt. Und dann kommt in Tunesien ein Gemüsehändler, übergießt sich aus Protest gegen die Bürokratie mit Benzin, verbrennt, und all die Diktatoren werden weggefegt.
    Wir sind nicht in Arabien.
    Schon. Aber siebenundsechzig war es hier ähnlich.

    Er mochte den Alten, obwohl oder auch weil er dessen Wut und Zähigkeit, vor allem den Glauben, dass man die Gesellschaft, den Menschen von Grund auf ändern könne, nicht teilen konnte.
    Er hatte nicht, wie seine Tochter Sabrina es gern tat, Gulag gerufen und Stalin, Kuba, Pol Pot. Er war eher traurig gewesen, traurig auch darüber, wie treu, aber hilflos die beiden Alten an ihrer Überzeugung festhielten. Insofern waren sie Fossilien in einer Welt, von der jeder behauptete, sie sei durch Wandel, durch Turboveränderungen bestimmt. Sie waren Gerechtigkeitsfossilien, die in ihrer Alten-Kommune lebten und von Empörung und Aufstand grummelten.

    Andrea hätte seinem Vater gefallen. Zuerst hatte ihn ihre Stimme besucht, und danach kam sie ihm vor Augen. Eine ruhige und klingende Stimme, die sich ihm ins Ohr schob und einen Hallraum schuf.

    Eines Tages war seine Assistentin ins Zimmer gekommen

Weitere Kostenlose Bücher