Vogelweide: Roman (German Edition)
Bestellen der Schülerin, die auf die beiden Kinder bis abends um sieben Uhr aufpasste, sodann das Herbeirufen der Mutter aus Münster, fast eine Tagesreise, die zu Abend kochen, über Nacht bei den Kindern bleiben sollte und morgens den Sohn und die Tochter in die Schule bringen musste. Sie hatte nichts von diesen Vorbereitungen, den Absprachen erwähnt, aber er kannte das aus früheren Erzählungen, wenn sie vom Alltag berichtete und den Hilfen, die sie hatte. Was wird sie der Mutter gesagt haben, ohne, was sie verabscheute, direkt zu lügen? Eine Kunstausstellung in der Provinz besuchen? Tatsächlich hatten sie dann eine belanglose Ausstellung in Rostock besucht. Einmal in Ruhe am Strand laufen? Ausspannen?
Ja.
Sie waren an die Ostsee, auf die Halbinsel Darß gefahren. Nur noch wenige Touristen waren im Ort. Im Hotel, einem öden Neubau, bekamen sie ein Zimmer mit Meerblick. Als er die Tür abschloss und sie in die Arme nahm, sagte sie, komm, lass uns an den Strand gehen. Wir haben Zeit. Viel Zeit, zwei ganze Nächte. Sie gingen durch den Ort, vorbei an leeren Cafés und Restaurants, der Gestank von altem Bratfett lag in der Luft, Schilder waren wie Barrikaden auf den Gehweg gestellt. Ostseeflunder und Wiener Schnitzel wurden angeboten. Rülps, sagte er. Kellner lungerten vor Eingangstüren. Die Strandkörbe wurden abgespritzt und auf Anhänger geladen.
Ein zurückgelassener Hund schloss sich ihnen an, trottete nebenher, bis Eschenbach ihn verscheuchte, er blieb etwas zurück und folgte dann in einem größeren Abstand. Es war Anfang September, und nach Tagen mit Wind, Regen und Kälte waren an einem über England und der Nordsee liegenden Tiefdruckgebiet vorbei warme, trockene Luftmassen vom Mittelmeer bis in den Norden verfrachtet worden.
Das Meer war nur leicht bewegt. Die Wellen brachen sich mit kleinen Schaumstreifen. Der Strand weit, und am Rand standen die vom Wind schräg gekämmten Bäume.
Niemand weit und breit, sagte sie.
Der Wind im Strandhafer war ein Zirpen. Möwenschreie.
Sie wollte schwimmen. Zog sich auch sogleich aus, die Jeans, das langärmelige, blau-weiße bretonische Fischerhemd, den schwarzen Büstenhalter, den Slip warf sie, nachdem sie ihn heruntergezogen hatte, mit einer kühnen Fußbewegung weit von sich, watete ins Wasser, blieb stehen, winkte ihm, er solle kommen. Er zog sich freudig fröstelnd aus. Das Wasser war eisig. Sie hielten sich an den Händen, liefen durch die auslaufenden Wellen und warfen sich hinein.
Als sie aus dem Wasser stiegen, frierend dastanden, lachte sie, zeigte auf ihn, auf das, was da unter seinem Bauch war, und sagte: Ach herrje.
Und dann nahm sie ihn an die Hand wie ein Kind und lief mit ihm zu den Dünen. Unmöglich, sagte er, dem das Lieben in der Natur ein Graus war, und dann noch kalt, eisig. Ganz unmöglich.
Ich wärme dich.
Das war ein Wort, das sie begleiten sollte: Ach herrje. Und dann: Du musst mich wärmen. Und jedes Mal wieder konnten sie darüber lachen.
Als sie zurückkamen, saß der Hund neben ihren Hosen, Hemden, Schuhen. Und erst jetzt entdeckten sie den auf der gegenüberliegenden Düne sitzenden Mann. In den Händen hielt er ein übergroßes Fernglas.
Zukunft, das bedeutete Zeit. Die erschien ihm plötzlich endlos. Keine Konferenzen, keine Mails. Nichts. Allein das Wort Stammkapital und das Wort Losgrößentransformation.
Ich werde, hatte er zu Ewald gesagt, in dieser Zweizimmerwohnung Zeit für meinen Jonas-Essay haben, und darauf stießen sie an. Schöner wäre, an einem Strand zu schreiben, nein, ein Gestade sollte es sein.
Und wie auf einen geheimen Befehl kam das Wasser zu ihm.
Er saß und redigierte einen Reiseführer über Kanada, es war Sommer, die Fenster standen offen und von unten war laut das Gedudel eines türkischen Schlagers zu hören und dazwischen ein Plätschern. Nach einiger Zeit drehte er sich um und blickte hoch: Aus dem Loch in der Decke, aus dem der Kabelanschluss für eine Lampe hing – er hasste Hängelampen –, schoss ein Strahl Wasser, und als er sich zur Wand umdrehte, sah er Wasser flächig und in leichten Schwingungen hinunterlaufen wie in einer Grotte. Dass er noch nicht mit den Füßen im Wasser stand, verhinderten die großen Parkettfugen, durch die es in das untere Stockwerk abfließen konnte.
Er lief die Treppe hoch, klingelte an der oberen Wohnung, aus der tags wie nachts Kindergeschrei und Hundegebell zu hören waren. Auch das Fernsehprogramm konnte Eschenbach verfolgen: Geschrei,
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