Vogelweide: Roman (German Edition)
nicht bei ihm gelernt, sondern in den USA. Der Meister der Propaganda war daran interessiert. Er hatte sofort die Bedeutung erkannt.
Meinung ist Matsch, sagte er, das Fernglas vor Augen, und suchte nach dem Falken, der aufgestiegen war, Richtung Festland flog, dann aber, als fürchte er den Flug, wieder umkehrte und sich hinter dem dichten Busch niederließ.
Ein Matsch, den das Institut durchknetete und in Form brachte. Eine Form, die wiederum Handlungen bestimmte, ihnen Richtung gab, und sei es nur im Wahlvotum. Durch das Ausforschen der Meinungen, die letztlich Wünsche sind, wird ein ganz anderes Diktat als durch Zensur, Polizei und die staatliche Überwachung möglich, demokratisch legitimiert, dem Anschein nach die sogenannte repräsentative Umfrage, aber diktatorisch, da es nur die momentanen dumpfen Wünsche des Bestehenden wiederholt, verfestigt. Die Politik immer wieder rückbeordert auf das, was angeblich allenfalls möglich ist. Die damit den Mut, die Entschiedenheit abschöpft, sich das andere vorzustellen.
Eben das war das Ziel der Norne, sie wollte die Treibsätze der Wünsche erforschen. Nicht nur den einzelnen konkreten Wunsch, sondern die Kraft, die ihn antreibt. Kann man diese Kraft herausfiltern? Das Glücksverlangen?
Die Leidenschaft als Schneidbrenner gegen die guten Sitten.
G., Rechtsanwalt (Strafrecht), 53 Jahre, verheiratet, Haus im Grünen, zwei Töchter, ein Sohn. Der Sohn studiert Sport und Mathematik. Die ältere Tochter bereitet sich auf das Abitur vor, die jüngere, 13 Jahre alt, geht auf das Gymnasium. Die Frau morgens Tennis, nachmittags Deutschunterricht für unbegleitete Kinder, immerhin eine Stunde Autofahrt, hin und zurück, soziale Verantwortung. Dann Durchsicht von Hausaufgaben der jüngsten Tochter. Abendessen, gedeckt und zusammensitzen, Mahlzeit sagen, auch ein kurzes Gebet, Herr Jesus Christus sei unser Gast. Fragen nach dem verbrachten Tag. Die Kanzlei. Die Exilkinder, die Schule, der Freund der Älteren, ein Klassenkamerad.
G. ist oft unterwegs, Prozesse und Vorträge, trifft dann seine Geliebte, die Ärztin K., fast repräsentativ in dem statistischen Normbereich der erfolgreichen Männer mit einer zweiten festen Partnerin: Hälfte seines Lebensalters plus acht, also 34 Jahre.
Sie hatten sich auf einem Kongress kennengelernt, er rannte die Treppe hoch zu einer Diskussion, an der er teilnehmen sollte (Klagen auf Körperverletzung nach Operationen), sie kam die Treppe herunter auf dem Weg zur Toilette, an der Wende im Treppenaufgang rannten sie – und die Situation ist für das weitere Geschehen wichtig – ineinander, sahen sich an, lachten, und ich wusste, sagt sie, die junge Ärztin, K., wir wussten, sagt er, G., das ist unser Schicksal.
Sie treffen sich monatlich in gut geführten Hotels. Fünf Sterne plus. Die Geliebte stets mit der Frage im Gepäck, warum er, der, wie er sagt, schon seit vier Jahren nicht mehr mit seiner Frau schläft, sich nicht trennt, eine Frage, die immer dringlicher gestellt wird, da, wie sie sagt, ihre biologische Uhr tickt, und nach einem seiner Liebesschwüre, den er eben noch herausgebrüllt hat, will sie endlich wissen, warum er nicht endlich seiner Frau reinen Wein einschenkt. Jetzt – unmöglich. Das sagst du immer: Unmöglich. Jetzt ist es ganz unmöglich. Sie weiß, er hat es ihr gleich am Anfang ihrer Beziehung gesagt: Der Sohn ist behindert. Spastiker. Die Frau reibt sich auf. Da sind auch noch die beiden Töchter, die eine steckt gerade in der Pubertät, und die Ältere bereitet sich auf das Abitur vor. Nein, ganz unmöglich. Die Frau, seine Frau, die sehr tapfer ist, kann er jetzt nicht allein lassen, mit diesem behinderten Kind, er sagt, komm, bitte, lass uns nicht davon reden. Jetzt nicht. So geht das acht, neun Monate.
Plötzlich bekommt die Ehefrau Briefe, anonyme Briefe – wer, fragt man sich, schreibt solche Briefe? Neid? Mitleid? Prinzipienreiter: Ehe ist ein Sakrament oder so ähnlich? Oder schreibt die Geliebte? Zwei, drei, die ersten beiden hat die Frau weggeworfen, den dritten hebt sie auf, nach dem vierten, der das Hotel nennt, wo ihr Mann absteigen wird, fährt sie nach Baden-Baden. Wieder eine dieser Konferenzen zu Medizin und Strafrecht. Sie geht in das Hotel, fragt am Empfang nach dem Namen ihres Mannes. Die freundliche Empfangsdame sagt, der Herr Doktor und seine Frau sind spazieren gegangen. Sie setzt sich in der Lounge in einen der breiten Sessel, versinkt regelrecht darin und wartet. Ihr Mann kommt
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