Volk der Verbannten
nicht jetzt, nicht heute Abend. Ich will heute Abend nicht berauscht sein, wenn …« Sie unterbrach sich und wurde rot.
Lionor führte ihren Satz lächelnd zu Ende: »Wenn Arekh ankommt«, sagte sie mit funkelnden Augen.
Diesmal erwiderte Marikani ihr Lächeln, und einen Moment lang kehrte ein Hauch der alten Komplizenhaftigkeit zurück.
»Ja«, sagte Marikani. »Er hat mir gefehlt.«
Arekh war in Reynes geblieben. Nach dem Tod des Hohepriesters hatte es in der Ratsversammlung mehrere politische Umstürze gegeben, und Arekh war bestens geeignet, unterstützt von Pier Ayeshas Interessen vor dem Rat zu vertreten und sicherzustellen, dass die Vertragsbedingungen auch eingehalten wurden.
Marikani hatte sich nie beklagt; sie hatte nie ein Wort gesagt, das den Verdacht hätte aufkommen lassen können, dass sie ungeduldig auf seine Rückkehr wartete. Aber Lionor verstand noch immer im Herzen ihrer Freundin zu lesen. Außerdem konnte auch sie Arekhs Ankunft kaum erwarten. Sie würde sich freuen, ihn wiederzusehen, und glaubte, in ihm einen Verbündeten zu finden.
Arekh war ein pragmatischer Mann, das wusste Lionor. Er würde Marikani überzeugen, sich stärker in ihren eigenen Kult einzubringen. Lionor war es trotz aller Bemühungen und verzweifelten Reden nicht geglückt, Marikani über ihre göttliche Natur die Augen zu öffnen. Vielleicht würde Arekh rationalere Argumente in die Waagschale werfen, wie etwa die Bedeutung der Strahlkraft Ayeshas auf der politischen Bühne. Je stärker die Göttin war, desto mehr würden ihre Feinde sie respektieren.
Die beiden Frauen plauderten noch einige Augenblicke, waren aber nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Lionor erläuterte Marikani die Einzelheiten der Zeremonie des Folgetags und der Rolle, die Ayesha spielen musste. Marikani hörte zu, ohne Fragen zu stellen oder jegliche Begeisterung zu zeigen. Lionor verbarg ihre Missstimmung und kehrte in den Tempel zurück.
Marikani verbrachte den Nachmittag arbeitend auf der Terrasse. Als der Abend anbrach, nahm sie ein Bad,
kämmte sich die Haare und kleidete sich langsam an. Arekh sollte in der Nacht ankommen, und sie wollte bereit sein.
Die Stunden vergingen und steigerten ihre Ungeduld immer weiter. Sie wartete auf der Terrasse, ohne sich konzentrieren zu können. Sie hatte Arekh seit der Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, nicht mehr gesehen. In den folgenden Tagen hatten sie sich nur durch Boten verständigt. Seitdem hatten sie natürlich im Briefwechsel gestanden, aber Briefe konnten von wem auch immer gelesen werden, und so blieb ihr Ton nüchtern und sachlich.
Der Abend war wunderschön, wie immer in Samara. Der Ozean wurde hier von einer warmen Strömung durchflossen, die das Klima im Norden der Königreiche mild machte. Die religiösen Gesänge, die aus dem Tempel aufstiegen, waren klar und melodisch, und Marikani musste eingestehen, dass sie großartig klangen. Die Stimmen verschmolzen harmonisch mit dem Rauschen des Meeres und dem Licht der Monde.
Mit dem, worauf sie wartete.
Noch zwei Stunden vergingen.
Sechs Monate. Es war sechs Monate her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Seit sechs Monaten wartete sie auf seine Rückkehr, so sehr, wie sie noch nie auf jemanden gewartet hatte.
Sie hatten sich so viel zu erzählen, so viel zu klären, so viel zu teilen …
Noch mehr Zeit verging. Die Monde spiegelten sich im tiefen Schwarz der Wellen. Marikanis Warten wurde qualvoll, als sei die Anspannung zu groß, als würde sie zerbrechen. Sie stand auf und ging auf den Holzbrettern
der Terrasse hin und her. Diese sechs Monde, die sie in Samara verbracht hatte, waren … seltsam gewesen. Marikani fühlte sich fehl am Platze, als ob sie nicht hierhergehörte.
Vielleicht lag es einfach daran, dass der Krieg zu Ende war. Als sie das Türkisvolk durch die Berge geführt hatte und die Flüchtlinge ihr barfuß und ausgehungert gefolgt waren, hatte sie gelitten, aber wenigstens gewusst, wofür sie kämpfte. Als sie ihre Männer in den Krieg vor den Toren von Reynes geführt hatte, hatte sie es auch gewusst. Obwohl jeder Herzschlag sein Maß an Schrecken mit sich gebracht und die Verantwortung für all diese Menschen wie eine stählerne Bürde auf ihr gelastet hatte, hatte sie durchgehalten.
Jetzt …
Jetzt war sie keine Kriegsherrin mehr, sie musste sich darauf einlassen, in Frieden zu herrschen, und der Übergang war nicht einfach. Ja, das war es, das war das Problem. Dieses Unbehagen, dieses Gefühl, nicht
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