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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Energie aus, dass alle vernarrt in sie waren.
    Der Rhythmus beschleunigte sich, und Non’iama drehte sich immer schneller. Sie hob den rechten Arm - den anderen konnte sie kaum bewegen -, um die Himmel
anzurufen. Dann blieb sie stehen und rief: »Ich bin die Hâman der Ayesha!«
    »Du bist die Hâman der Ayesha!«, wiederholte die Menge gutgelaunt.
    »Ayeshas Geist ist nicht in ihrem Körper«, verkündete Non’iama mit klarer Stimme. »Morgen wird die Himmelfahrt stattfinden! Morgen wird sich Gewalt mit Liebe vermischen, morgen wird Ayeshas Geist in den Himmel auffahren! Ihre Macht wird das Firmament erleuchten! Ayesha erstrahlt in der Nacht und beschützt uns!«
    Die Menge trampelte und applaudierte. Lionor entfernte sich mit gerunzelter Stirn. Morgen wird sich Gewalt mit Liebe vermischen ? Die Visionen des kleinen Mädchens waren gelegentlich unklar, und Lionor war nicht sicher, ob sie diese hier begriff. Sie brauchte ein bisschen Abstand. Nach einiger Zeit wurde das, was geheimnisvoll war, manchmal offenbar.
    Lionor wandte dem Altar endgültig den Rücken zu, ging zu dem großen Holzhaus und klopfte an die Tür.
    Als sie keine Antwort hörte, trat sie ein. Der Hauptraum war leer, und sie fand Marikani auf der Terrasse, wo sie saß und gerade etwas schrieb.
    »Guten Tag«, sagte Lionor lächelnd. »Die Zeremonien werden vorbereitet. Der Tempel ist schon mit Blumen geschmückt, und alles ist für morgen bereit.«
    Marikani hob den Blick von ihrem Brief und musterte Lionor. »Großartig«, erwiderte sie, bevor sie weiterschrieb.
    »Die Mädchen haben vier neue Lieder eingeübt.«
    Marikani hob die Feder und nickte abwesend. Dann legte sie - sicher, weil sie sich ihrer Unhöflichkeit bewusst wurde - ihr Papier beiseite und wandte sich Lionor zu, die sich an die Balustrade der Terrasse gelehnt hatte. Die
beiden jungen Frauen musterten einander einen Moment lang.
    Zwischen ihnen herrschte spürbare Verlegenheit. Eine Anspannung, die bestand, seit Lionor sich entschlossen hatte, die Priesterrolle zu übernehmen.
    Lionor wandte sich ab und ließ ihren Blick über den Ozean schweifen. Seit Baras Tod vermied Marikani es so oft sie nur konnte, an den Ritualen teilzunehmen. Sie setzte nur selten einen Fuß in den Tempel, wollte mit den Zeremonien nichts zu tun haben und trug die türkisfarbene Schminke bloß, wenn es unumgänglich war - beispielsweise, um mit dem Gouverneur von Kinshara zu verhandeln.
    Seltsamerweise kamen die Gläubigen recht gut ohne Marikanis Gegenwart aus. Es war, als ob sich der Begriff »Ayesha« in zwei Bedeutungen gespalten hätte. Sie beteten ihre Vorstellung von der Göttin an, tanzten vor ihren Statuen, verbrannten ihr zu Ehren Weihrauch und sangen Loblieder auf sie, ohne sie zu sehen. Währenddessen besuchte Marikani die Werften, verhandelte mit den Arbeitern, organisierte die Nahrungsverteilung und tauschte lange Briefe mit dem Herrn der Verbannten und Arekh aus, um die Proviant- und Geldlieferungen zu regeln.
    Ja, Ayeshas Abwesenheit wirkte sich nicht nachteilig auf ihren Kult aus. Aber Lionor litt darunter. Und sie war es müde, Marikanis höflichen, aber gereizten Gesichtsausdruck zu sehen, wenn sie ihr von den Fortschritten beim Tempelbau oder der ständig wachsenden Anzahl von Gläubigen, die an den Opfern teilnahmen, berichtete.
    All die Mühen, all der Glaube, all die aufgewendete Energie - und zum Dank nur verlegene Kälte!

    Das Schweigen zog sich in die Länge, und Lionor sah, dass ihre Freundin verzweifelt nach einem neutralen Gesprächsthema suchte.
    »Die Werftarbeiter bitten um Verstärkung«, sagte Marikani. Dann strich sie sich mit der Hand über die Stirn, als sei ihr zu warm. Lionor runzelte die Stirn. Im Lager brachen regelmäßig Krankheiten aus. Manche waren harmlos, andere tödlich: Sie verbreiteten sich unter den Flüchtlingen, führten zu ein paar Dutzend oder manchmal gar ein paar hundert Todesfällen und verschwanden dann wieder. Marikani fühlte sich schon seit drei Tagen nicht wohl, und Lionor glaubte, dass sie Fieber hatte. Eigentlich nichts weiter Beunruhigendes.
    Aber Lionor wollte, dass Marikani morgen in Form war. Ayesha leitete die Zeremonie, sie musste blendend schön sein.
    »Du bist krank«, sagte sie. »Du solltest kalte Bäder nehmen.«
    Marikani zuckte mit den Schultern. »Das wird schon vorbeigehen.«
    »Sicher. Aber Fieber geht schneller vorbei, wenn man es bekämpft.«
    »Ich werde morgen Mahhm einnehmen«, sagte Marikani. »Nach der Zeremonie. Aber

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