Volk der Verbannten
blutbefleckt war.
Er hatte sich die Kehle durchgeschnitten.
KAPITEL 15
Der Ozean war von einem überwältigenden Blau, der Himmel makellos heiter. In Samara wirkte der Horizont gewaltig, grenzenlos; das Licht war blendender als anderswo.
Die Werften erstreckten sich meilenweit entlang der Küste und bildeten ein Mosaik von leuchtenden Farben: das dunkle Braun der Planken und der großen Schiffsrümpfe, die langsam über den Gerüsten Gestalt annahmen. Das Rot der Gewänder der Arbeiter, die diese Farbe trugen, seit Kinshara geboren worden war, und um nichts auf der Welt die Traditionen ihrer Ahnen aufgegeben hätten. Das Weiß der Möwen und der Niis , dieser gewaltigen Meeresgreifvögel mit gebogenen Schnäbeln und makellosen Flügeln. Die Farben der verzierten Kleider der Kinder, die, seit die Welt die Welt war, ihre schönsten Jahre damit verbrachten, am Strand und in den Wellen zu spielen, bevor sie sich als Lehrlinge auf den Werften verpflichteten.
Und davor lag imposant auf den Hügeln der Große Ayesha-Tempel.
Im Lager befand sich ein weiterer Tempel, der Ayesha geweiht war, ein Provisorium aus Holz, das bei der
Ankunft des Türkisvolks errichtet worden war. Die Balken waren blau und weiß bemalt worden, und es war ein hübscher kleiner Tempel, fröhlich und einladend, aber Lionor wollte etwas Besseres.
Es würde mindestens zwei Jahre dauern, eine Schiffsflotte zu bauen, die in der Lage war, sie auf die andere Seite des Ozeans zu bringen. Zwei Jahre, vielleicht mehr. Für die Zwischenzeit verdiente Ayesha einen echten Tempel. Und Lionor hatte ihn geplant. Lionor hatte darum gekämpft, dass die Göttin einen Ort erhielt, an dem ihr Ruhm gefeiert werden konnte, Lionor hatte die Gläubigen überzeugt, hatte Steine liefern lassen und die Arbeiten überwacht, damit sich das Gebäude zu Ehren der göttlichen Kraft, die ihrer aller Leben verändert hatte, in den Himmel erheben konnte.
Lionor Mar-Arajec, die Hohepriesterin der Ayesha.
Der Tempel war noch nicht ganz fertig. Es fehlten im zweiten Stock noch Steine, und die Kuppel befand sich gerade im Bau. Das Gebäude war noch nicht offiziell eingeweiht worden; das würde morgen im Rahmen der Zeremonie geschehen, die Lionor seit Monaten plante. Doch der Tempel wurde bereits genutzt: Im Innern brannte eine geweihte Flamme, die von den Priesterinnen gehütet wurde; Weihrauch und Kräuter wurden ständig verbrannt, und die »jungfräulichen« Freiwilligen - nicht alle waren wirklich Jungfrauen, aber man behalf sich eben mit dem, was man hatte - lernten dort Gesänge zu Ehren der Göttin.
Manchmal fanden sich die Gläubigen dort ein, um zu beten, aber eigentlich war das Tempelinnere wenig besucht. Es war vor allem das Äußere - die »Terrassen«, wie Lionor es nannte -, das die Massen anzog. Das Wort
»Terrassen« war übrigens etwas hochtrabend für das, was im Augenblick nur aus einigen Umfriedungen bestand, in denen Unkraut zwischen den Steinplatten wucherte. Die Frauen und Kinder kamen hierher, um zu spielen, zu singen und sich auszuruhen. Sie brannten kleine Kerzen ab oder webten winzige Püppchen aus türkisfarbener Wolle, die sie dann als bescheidene Opfergabe auf den Stufen des Tempels ablegten.
Der Weihebezirk des Großen Ayesha-Tempels umfasste auch die Terrassen, und sie bildeten für die Männer und Frauen des Türkisvolks einen angenehmen Ort, um sich zu versammeln.
Und außerdem beteten nicht nur ehemalige Sklaven die Göttin an. Das Ayesha-Volk war bunter gemischt denn je. Zunächst gab es da die Verbannten, die, obwohl sie ihre Kultur bewahrten und ihre Zelte abseits vom Hauptlager aufgeschlagen hatten, immer häufiger an gemeinsamen Veranstaltungen teilnahmen. Die Zeit hatte ihr Werk getan, und seit sie vor sechs Monden im Lager in der Nähe der Werften eingetroffen waren, waren schon drei Hochzeiten zwischen den beiden Völkern gefeiert worden. Die »schöne Moïri«, die die Frauen der Verbannten repräsentierte, hatte Day-Yan kurz nach ihrer Ankunft in Samara geheiratet. Ihre Verbindung hatte Ayesha und dem Herrn der Verbannten Gelegenheit gegeben, ein großes Fest auszurichten, auf dem die Liebe und die Eintracht zwischen den beiden Gemeinschaften gefeiert worden waren.
Sie hatten weder am Wein gegeizt noch sonstige Ausgaben gescheut. Die Einigkeit zwischen den beiden Völkern war für die Zukunft äußerst wichtig, und Ayesha war sich dessen bewusst.
Und dann gab es da noch die Flüchtlinge, die von überall her stammten. Die
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