Volk der Verbannten
Flüchtlingsfamilien, die mit Arekh es Morales gekommen waren, waren geblieben und hatten sich ohne Schwierigkeiten integriert, und es gab noch weitere, die aus allen Winkeln der Königreiche kamen, um sich Ayesha anzuschließen. Zunächst hatten die ehemaligen Sklaven diesen Männern und Frauen misstraut: braunhaarig mit braunen Augen, mit goldener Haut wie ihre ehemaligen Herren, Männer und Frauen, die früher oft selbst Sklaven besessen hatten, sie ausgepeitscht oder am Tag des Großen Opfers den Priestern ausgeliefert hatten. Und die jetzt herkamen, um Ayesha anzubeten.
Dann hatten sie sich daran gewöhnt. Die Neuankömmlinge waren zahlreich, und manche waren wohlhabend: Sie schenkten für die Ehre, aufgenommen zu werden, ihr Vermögen Ayesha oder dem Tempel. Und Ayesha lehnte nicht ab.
Sechs Monde waren seit dem Sieg vor den Toren von Reynes vergangen, und Lionor hatte beschlossen, die Gedenkfeier und die offizielle Einweihung des Großen Ayesha-Tempels zu einem riesigen Fest zu verbinden. Alle Omen waren günstig. Der folgende Tag war als Termin für das Fest vorgesehen, und es würde ein außergewöhnlicher Tag werden: Das vierte Schiff der Ayesha-Flotte würde fertiggestellt werden. Die Konjunktionen der Nacht würden die Rune der Hoffnung bilden, und um Mitternacht würde E-Lâ genau nördlich der Rune stehen und durch einen vom Schicksal vorherbestimmten Zufall die Rune der Reise und des Ozeans formen.
Das Wetter war herrlich, und die Priesterinnen, die aus den Eingeweiden der Opfertiere lasen, hatten für die
kommenden Monate nichts als Freude und Wohlstand vorhergesagt.
Alles wäre perfekt gewesen, wenn Ayesha selbst in der Stimmung gewesen wäre, ihren Ruhm zu schätzen zu wissen.
Lionor ging am Strand entlang. Ihr weißes Baumwollgewand flatterte in der Meeresbrise. Ihre Haare waren geflochten, wie es sich für eine Hohepriesterin gehörte. Hannaï war sicher gerade dabei, mit den zwanzig auserwählten jungen Mädchen, die am folgenden Abend singen würden, die heiligen Lieder zu wiederholen.
Hannaïs Groll hatte sich endlich gelegt.
Hannaï war die erste Ayesha-Priesterin gewesen, als das Türkisvolk noch durch die Berge gezogen war, und es hatte ihr gar nicht gefallen, ihre Position zu verlieren. Aber Lionors Einfluss und Bildung hatten es ihr beunruhigend leicht gemacht, sich durchzusetzen. Seit Lionor den Ayesha-Kult in die Hand genommen hatte, hatte er unerwartete Ausmaße angenommen, und das hatte selbst Hannaï anerkennen müssen.
Lionor hatte den Tempel bauen lassen, Lionor hatte die Rituale eingeführt, Lionor hatte die Feste ausgerichtet. Sie hatte einen entscheidenden Trumpf in der Hand, der dafür sorgte, dass alle ihr gehorchten und sogar Day-Yan und Haîk sie respektierten und fürchteten: ihre Vergangenheit. Lionor war Ayeshas beste Freundin, sie kannte sie seit ihrer Kindheit, und gemeinsam hatten Lionor und Ayesha große Gefahren überstanden; die Erzählungen darüber waren zur Legende geworden. Nur Arekh es Morales hatte - ohne auch nur anwesend zu sein - vergleichbare mythische Größe erlangt. Man erzählte sich allerlei seltsame Geschichten über ihn. Arekh es Morales
hatte den König der Sakâs getötet und Ayesha auf ihren Reisen begleitet. Vor der Nacht des Großen Opfers war er ihr Liebhaber und Beschützer gewesen. Wer er wirklich war und woher er stammte, wusste niemand, und das Geheimnis gereichte ihm zum Vorteil, auch wenn manchmal erschreckende Gerüchte über seine Vergangenheit in Umlauf waren.
Im Süden des Lagers angekommen, marschierte Lionor quer über den Strand. Zwischen Feuerstellen, auf denen schon das Abendessen kochte, und Zelten hindurch ging sie zu dem großen Holzhaus hinauf, in dem Marikani lebte.
Eine Melodie zu ihrer Linken weckte ihre Aufmerksamkeit. Auf einem der Nebenaltäre des Lagers tanzte Non’iama, getragen vom Ayesha-Feuer.
Lionor wechselte die Richtung und näherte sich dem Altar. Das Kind hatte nur selten Visionen, aber Lionor nahm sie immer ernst.
Etwa fünfzig Personen hatten sich um den Altar geschart und begleiteten den Tanz des Mädchens mit rhythmischem Händeklatschen und Stampfen. Die Kleine tanzte mit ansteckender Leichtigkeit und Freude, und wie immer, wenn sie Non’iama sah, musste Lionor lächeln.
Die Schulter des Kindes war nie richtig verheilt. Non’iama würde immer ein wenig gebeugt gehen, die linke Schulter tiefer als die rechte. Aber trotz ihrer Verkrüppelung strahlte sie ein solches Glück und so viel
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