Volk der Verbannten
jemandem vertraute. Es war nötig … Tausende von Leben standen auf dem Spiel, Arekh«, sagte sie schließlich und spürte, wie ihr Tonfall immer zorniger wurde. »Und noch mehr. Reynes stand auf dem Spiel. Harabec stand auf dem Spiel. Das Leben meiner Männer ebenfalls. Ich habe getan, was ich tun musste, und würde es wieder tun.« Marikani ging bis zur Balustrade, drehte sich dann um und fuhr tonlos fort: »Es war nicht einfach. Manchmal muss ich Entscheidungen treffen, die …«
»Etwa die, ein neunjähriges Kind ohne Vorwarnung in den Tod zu schicken? Ein Kind, das du mir zu beschützen versprochen hattest? Ein Versprechen zu brechen, das du mir gegeben hattest, mir ?«
Marikani sah ihn an, ohne zu wissen, was sie antworten sollte.
»Ich weiß nicht mehr, wer du bist«, stieß Arekh hervor.
Und ging.
Marikani blieb allein auf der Terrasse zurück.
Die Nacht verging langsam. Marikani saß am Tisch, die Hände an den Schläfen.
Sie dachte nach.
Ihre Hände zitterten, wie sie verblüfft feststellte. Und ihre Stirn war glühend heiß. Das Fieber stieg immer noch. Das Denken tat ihr weh.
Alles tat ihr weh. Arekhs Worte hallten noch immer in der Luft wider. Sie hatte den Eindruck, er sei noch da, direkt vor ihr, und starre sie mit eisigem Blick an.
Verraten. Enttäuscht.
Das ist lächerlich , sagte sie sich. Arekhs Reaktion war lächerlich. Und überhaupt hatte sie recht. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen; sie hatte eine Strategie ausgearbeitet und gewonnen. Das würde Arekh auch noch einsehen, er würde am Ende verstehen, dass manche Opfer notwendig waren. Dass sie keine Wahl gehabt hatte.
Erinnerungen überfielen sie, Erinnerungen an frühere Gespräche, in den unterirdischen Gängen, als sie von den Hunden verfolgt worden waren. Arekh und sie stritten sich vor Mîn und Lionor, die besorgt lauschten, und sie , sie war es, die das Leben verteidigte, während Arekh sagte, dass man manchmal auch Opfer bringen musste.
Marikanis Kopf tat weh; alles trübte sich. Wann? Wann hatten sie die Rollen getauscht? Früher war alles einfach, klar und lichtdurchflutet gewesen, wie das Blaugrau der Berge, in denen sie aufgewachsen war, aber jetzt tobte das Fieber in ihrem Verstand, und nichts war mehr klar …
Was macht das schon? , dachte sie wütend. Was macht das schon! Ich hatte recht. Ich hatte recht, und wenn ich es wieder tun müsste, würde ich es wieder tun.
Warum zitterte sie dann so?
Die Gesänge erklangen von neuem. Marikani packte das Tintenfass und zerschmetterte es mit aller Kraft auf dem Tisch. Das Glas zerschnitt ihr die Hand; Tinte und Blut vermischten sich in ihrer Handfläche.
Ja, das Fieber stieg …
Wenn es wieder getan werden musste, würde sie es wieder tun.
Plötzlich stand sie auf und verließ das Haus. Draußen war die Luft lauwarm und immer noch stickig, und einen Moment lang sehnte sie sich nach dem eisigen Wind des Gebirges zurück. Ihre nackten Füße sanken in den Sand des Strands ein, und sie ging aufs Geratewohl los, auf der Suche nach Non’iama. Die Kleine musste in der Nähe des Tempels schlafen, auf einem Teppich. Das Wetter war so mild, dass viele auf diese Art an der frischen Luft schliefen. Vielleicht gefiel den ehemaligen Sklaven auch das Gefühl von Freiheit, das ihnen die Nachtluft verlieh.
Sie waren so oft eingesperrt und angekettet gewesen.
Die drei ersten Schiffe lagen vor den Werften; ihre Segel knatterten im Wind. Einen Moment lang stellte Marikani sich vor, auf der Schiffsbrücke zu stehen, während der Bug die Fluten durchschnitt. Wenn sie nur sofort dem Lockruf des Ozeans hätte folgen können …
Non’iama schlief auf ihrem Teppich. Marikani legte ihr die Hand auf den Arm und weckte sie.
»Ayesha«, flüsterte die Kleine, als sie Marikani erkannte. Sie schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, bei dem sich Marikani das Herz zusammenschnürte.
»Non’iama«, sagte sie leise. »Arekh hat dich heute Abend besucht …«
»Ja«, sagte das Kind in freudigem Ton. »Er ist zurück. Er ist zurück! Die Leute erzählen … sie erzählen, dass er das Ayesha-Volk an Eurer Seite in die neuen Lande jenseits des Meeres führen wird. Sie sagen, dass er Euer Erwählter ist. Ist das wahr?«
»Vielleicht«, erwiderte Marikani mit rauer Stimme. »Ich meine … ich hoffe es. Du hast ihm erzählt, was passiert ist, als ich, du weißt schon … als ich dich mit einer Botschaft zum König der Sakâs geschickt habe?«
Non’iama nickte. »Durfte ich das nicht? War
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