Volk der Verbannten
als jüngere Brüder, die in der Erbfolge benachteiligt waren, ihr Glück in großen Städten wie Harabec, Faez oder Reynes zu machen versuchten. Vielleicht war der Assistent, den Arekh gerade ermordet hatte, einer von ihnen gewesen. Aber wenn Lionor Skrupel hatte, hatte sie sie während ihres Aufenthalts hier nicht ausgesprochen. Vielleicht hatte sie Gewissensbisse, wenn sie die Blutflecken auf den Kleidern sah, die Arekh seinem ersten Opfer gestohlen hatte. Aber diese Gewissensbisse hinderten sie nicht daran, hungrig das Essen herunterzuschlingen, das diese Morde ihnen einbrachten. Manchmal direkt, wenn Arekh
Diener angriff, die Speisen trugen, manchmal indirekt, wenn er sich in die Menge der Armen mischte, die im Dreizehnten Hof am Südausgang der Küchen des Ratsgebäudes gegen einige kleine Münzen Reste der Bankette des Tages kaufen konnten.
Die Speisen, die von den besten Köchen der Königreiche zubereitet wurden, waren von hoher Qualität, und Lionor hatte ihre Kräfte und ihre Milch zurückgewonnen, während sie mit Gewürzen und Feigen gefülltes Geflügel und Stücke eines Kardamomkuchens mit Honig gegessen hatte.
Sie hatte die Speisen zu schätzen gewusst, obwohl sie mit unschuldigem Blut erkauft waren.
»Es ist an der Zeit aufzubrechen«, sagte Arekh, und Lionor erschauerte.
Arekh stand auf und wühlte in der alten Mahagonikommode. Er holte neben anderen Kleidern auch einen braunen Schal aus Seide und Wolle hervor, der schwach nach Schimmel roch, damit Lionor sich den Kopf wie eine Bäuerin verhüllen konnte.
Dann kniete er sich wieder neben sie. »Es ist an der Zeit aufzubrechen«, wiederholte er. »Ich habe schon seit einer Woche genug Geld, den Schlepper zu bezahlen. Wir dürfen uns hier nicht zu lange aufhalten. Irgendwann …«
Lionor nickte stumm. Irgendwann würde jemand bemerken, dass alle Schreiber, die in den letzten Wochen verschwunden waren, sich im Westflügel in Luft aufgelöst hatten. Oder Arekh würde auf einem Umweg durch einen staubigen Gang einem ehemaligen Kollegen begegnen, der ihn wiedererkannte. Oder - noch schlimmer! - irgendeines seiner Opfer würde entkommen.
Ja, sie mussten aufbrechen.
Lionor seufzte. Arekh verstand ihre Reaktion. Nach dem, was sie durchgemacht hatten, war dieses kleine Zimmer zu einem Zufluchtsort, ja zu einem Palast geworden. Ohne Leid hier einzuschlafen und aufzuwachen, in einem warmen, trockenen Zimmer, das leicht nach Kiefernharz roch und in dem sie das Leben Stück für Stück hatten zurückkehren sehen - das war wunderbar gewesen, unverhofft. Es war so schwer, jetzt zu gehen. Sich der Außenwelt zu stellen, in der jeder Schritt gefährlich war.
Schließlich stand Lionor auf, stützte sich an der Bettkante ab, ordnete ihre Kleider und schlang sich den Schal um den Kopf.
»Gehen wir«, sagte sie schlicht.
Sie begegneten auf ihrem Weg zum Dreizehnten Hof nur zwei arroganten Sekretären, die sie mit völliger Verachtung straften. In der Stunde nach dem Mittagessen traten die Ausschüsse zusammen, und angesichts der Situation mussten alle Angestellten, die dazu berechtigt waren, an den Versammlungen teilnehmen. Andere diskutierten leidenschaftlich im ringförmigen Gang. Zwanzig Minuten später gelangten Lionor und Arekh über eine winzige Treppe in eines der Lagerhäuser im Süden, in denen genug Fässer mit Wein lagerten, um den Durst der tausend bis zweitausend Personen zu stillen, die dauerhaft im Regierungsviertel lebten.
Arekh nahm eine der Schubkarren, auf denen die Köche schwere Lasten beförderten, lud zwei Fässer Apfelwein auf und schob sie ins Freie. Er überquerte den Hof so eilig, als ob es mit seiner Lieferung drängte. Lionor folgte ihm mit dem Kind auf dem Arm.
Die drei Wachen, die nahe bei einem steinernen Torbogen plaudernd in der Sonne standen, warfen noch nicht einmal einen Blick auf sie.
Arekh schob die Schubkarre weiter. Sie durchquerten einen kleinen Garten, in dem Stränge von Piment und Früchten in der Sonne trockneten, und fanden sich dann plötzlich ohne Vorwarnung in der tobenden Menge wieder, die auf dem Pflaster des Dreizehnten Hofs darauf wartete, dass die Köche mit dem täglichen Verkauf begannen. Die Preise waren für Speisen von solcher Qualität so niedrig, dass nie genug für alle da war und eine erbitterte Konkurrenz bestand.
Arekh spürte, wie Lionor sich anspannte, als sie sich in die Menge stürzten. Sie waren so lange allein gewesen, dass dieser Ozean aus Männern und Frauen sie wohl
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