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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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verborgenen Schrank, dessen Rückwand mit einem Geräusch aufschwang, das Arekh wie immer zu laut vorkam. Sie gab eine kleine Holztreppe frei, die zu einem geheimen Nebenzimmer führte, in dem der Ratsherr während seiner langen Laufbahn seine Geliebten empfangen und Feinde vergiftet hatte, die er zu »diskreten Verhandlungen« dorthin hatte locken können.
    Lionor und das Kind waren eingeschlafen.
    Lionor saß auf dem Boden, den Rücken an das Holz des vergoldeten Bettes gelehnt, in dem der Ratsherr so viele Frauen aus der Provinz beglückt hatte, die für ihre Gatten eine Beförderung erhofft hatten, zu der es dann nie gekommen war. Es gab auch Sessel, die trotz ihres Alters bequem waren, aber seit ihrer Ankunft hatte Lionor sich kein einziges Mal auf einen gesetzt. Sie blieb auf dem Boden, als sei sie noch in ihrer Zelle, stillte das Kind, wiegte es und schlief.
    Der goldene Staub tanzte in den Sonnenstrahlen, die zwischen den Brettern hindurchdrangen, mit denen das Fenster vernagelt war. Arekh kniete sich neben die junge Frau und legte die beiden Leinentaschentücher neben sie. Für das Kind. Dann musterte er Lionor, ohne sie zu berühren, versuchte, ihren Zustand einzuschätzen.
    Die Verletzungen, die die Folterungen hinterlassen hatten, verschwanden langsam. Die Blutergüsse verblassten, die Schnitte verheilten, ohne sich zu entzünden, da Arekh Mahhm in den dunklen Gassen des Basars aufgetrieben
hatte, der seit Jahrhunderten im südwestlichen Hof des Regierungsviertels stattfand. Lionor würde natürlich deutliche Narben zurückbehalten. Sie war immer noch eine schöne Frau, aber ihr Gesicht und ihr Körper waren auf ewig gezeichnet. Allerdings war das für den Augenblick die geringste ihrer Sorgen, da war Arekh sich sicher.
    Sie waren so dankbar gewesen, als sie in diesem kleinen Zimmer angekommen waren, das verborgen mitten in der Stadt lag. So dankbar, sich - allein und in Sicherheit - einfach nur fallen lassen zu können. »Im Herzen der Zitadelle des Feindes versteckt« , wie es in einer der alten Geschichten hieß, die Arekhs Mutter ihm erzählt hatte, als er noch ein Kind gewesen war.
    Das Buntglasfenster im Turm der Schreienden Seelen ging auf einen winzigen Hof des Verbotenen Gartens hinaus. Ein klitzekleines Stück des üppigen Parks und sicher älter als die meisten umgebenden Gebäude. Hatte Arekh das gewusst, als er gesprungen war? Er konnte die Frage selbst nicht beantworten. Ja, natürlich, er erinnerte sich vage, dass zwischen den Türmen und Gebäuden kleine Höfe ohne Zugang lagen; als er hier gearbeitet hatte, hatte er alte Grundrisse des Regierungsviertels studiert, um Abkürzungen und geheime Verbindungen zu finden, die ihm seine Arbeit erleichtern würden. Der Verbotene Garten hatte einst diesen ganzen Bezirk bedeckt, also war es durchaus möglich, dass dieser Hof ein Überrest davon war …
    Ja, es war möglich, aber hatte er es gewusst , als er gesprungen war?
    Eigentlich nicht.
    Als er gesprungen war und Lionors so mageren Körper umklammert hatte, hatte er geglaubt, dass er sterben
würde. Sie hatten keine Chance gehabt, einen Sturz von über vier Stockwerken zu überleben. Und dennoch … dennoch war ihm der Gedanke an den Verbotenen Garten durch den Sinn gehuscht, dennoch hatte er geplant. Nachgedacht. Selbst als er die junge Frau gepackt und Schwung geholt hatte, hatte er sich nicht davon abhalten können, darüber nachzudenken, was sie würden tun können, falls … falls die Pflanzen des umschlossenen Gartens verwildert und so hoch gewuchert waren, dass sie ihren Sturz abfedern konnten, falls … Arekh war immer noch Arekh, der sich selbst in den Flammen von Sarsan noch Chancen ausgerechnet hatte.
    Ein einziges Mal hatte diese Kraft in ihm versagt. Ein einziges Mal hatte er den Tod hingenommen - und damals war Marikani gekommen und hatte ihn gerettet.
    Das winzige Stück des Verbotenen Gartens, in das sie gestürzt waren, war seit dreihundert Jahren verlassen. Die Bäume und Pflanzen hatten Besitz von dem ummauerten Hof ergriffen, ihn für sich umgeformt, die Mauern überwuchert und verschlungen, sich zu einem wild wachsenden Dschungel entwickelt, der über zwei Stockwerke hoch war. Dennoch war der Aufprall so heftig gewesen, dass es ein Wunder war, dass sie überlebt hatten. Arekh, der Lionor noch immer festgehalten hatte, hatte gespürt, wie Dornen seinen Rücken aufgerissen hatten; an einem Ast hatte er sich die Schulter ausgerenkt, und ein Aufblitzen von Schmerz war durch

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