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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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schwindelig machte. Arekh ließ die Schubkarre stehen, nahm die junge Frau beim Arm - sowohl, um sie zu beruhigen, als auch, um sie nicht zu verlieren -, und sie warteten. Es dauerte nicht lange. Die Köche kamen mit drei Kesseln in den Hof, die für den Geschmack der Menge viel zu klein waren. Die zuletzt Angekommenen begriffen bald, dass für sie nichts abfallen würde, und gingen murrend in kleinen Gruppen ihres Weges.
    Lionor und Arekh mischten sich unter sie.
    Ein steinerner Torbogen.
    Noch ein Hof.
    Ein zweiter, größerer Torbogen, in dessen Säulen das Wappen der Fürstentümer von Reynes eingemeißelt war. Der Ausgang des Regierungsviertels.
    Die Straße.
    Sie waren im Freien.

     
    Rings um sie erstreckte sich Reynes.
    Sie gingen nur einige Schritte weit und blieben dann mitten auf einem großen, gepflasterten Platz stehen. Etwas weiter entfernt hatten sich besorgte Frauen um einen Ausrufer geschart, der die neuesten Kriegsnachrichten verkündete. Reiche Bürger eilten, eingehüllt in wollene Mäntel, in die gehobenen Wohnviertel im Westen der Stadt. Und vom Fuße des Hügels klang der Lärm der Stadt zu ihnen herauf, eine Mischung aus Stimmen und Glocken, dem Rumpeln der Karren, dem Wiehern der Pferde und Blöken des Viehs, Tausenden von Gesprächen. Schreien und Weinen. Ein Trupp von zwanzig Soldaten - ihren grauen Uniformen nach zu urteilen Rekruten - kam aus einer Straße hervormarschiert und bog sofort in eine andere ein, entschwand ihren Blicken …
    Um sie herum zerstreuten sich die Frauen und Männer, die über die Resteverteilung so enttäuscht gewesen waren.
    Arekh sah Lionor an, die wie vom Donner gerührt stehen geblieben war. Sie bewegte sich einige Sekunden lang nicht, blickte nach oben und schnappte nach Luft.
    »Zum ersten Mal in Reynes?«, fragte Arekh leise.
    Lionor nickte. »Ja.« Sie schwieg einen Moment lang und betrachtete das Schauspiel, das sich ihr bot. »Ich habe immer davon geträumt, die größte Stadt der Königreiche zu besuchen - aber natürlich nicht unter diesen Umständen«, fügte sie hinzu und brachte ein Lächeln zustande. »Ich wollte herkommen, wenn mein Sohn größer ist. Vielleicht sogar mit meinem Mann.« Sie winkte ab. »Nun ja. Ich wusste natürlich, dass die Stadt eindrucksvoll sein soll, aber …«
    Arekh sah sich um und versuchte, die Umgebung mit
Lionors Augen zu betrachten, mit dem gleichen frischen Staunen, aber das war schwierig. Er hatte jahrelang in Reynes gelebt, und die Schönheit und der grandiose Anblick der Stadt hatten ihren Reiz rasch verloren. Er war damals jung gewesen, von Schuldgefühlen gepeinigt, die nur umso verzehrender geworden waren, weil er sie nach tief unten in seine Bauchhöhle verbannt hatte. Diese Jahre waren die düstersten seines Lebens gewesen, und er hatte sie hier verbracht. Die Last seiner Verurteilung wegen Vatermords hatte ihm wie eine Axt im Genick gesessen. Er hatte immer abscheulichere und blutigere Verbrechen begangen, um das erste zu vergessen …
    Nach alledem war es schwer, die rohe Kraft, das überbordende Leben und die strahlenden Farben der prächtigsten Stadt der zivilisierten Lande zu schätzen zu wissen.
    Was einen zuallererst beeindruckte, war die Höhe. In den Königreichen gab es selten Gebäude, die über mehr als zwei oder drei Stockwerke verfügten, wenn man von Festungstürmen oder bestimmten Palästen absah. In Reynes war die Architektur anders. In der Umgebung des Regierungsviertels, das durch seine Erhabenheit alles erschlug, ragten sechs-, sieben- und sogar achtstöckige Gebäude mit spitz zulaufenden, roten Dächern in den Himmel auf. Jede Wand jedes einzelnen Gebäudes war mit bunt gefassten Basreliefs verziert, auf denen ineinander verschlungene Personen Szenen aus Legenden und berühmten Geschichten nachspielten oder zu Ehren der Hausbesitzer kleine Szenen aus dem Handelsleben darboten. Und zwischen den Fenstern, an den Wänden und über den Türen ragten Statuen auf wie versteinerte Affen, die zum Sturm auf die Mauern geblasen hatten.

    Und diese Statuen waren bemalt. Das war es, was - abgesehen von der Höhe der Gebäude - die Reisenden mit offenem Mund und aufgerissenen Augen alles anstarren ließ, wenn sie sich zum ersten Mal innerhalb der drei Stadtmauern befanden: die kräftigen, klaren, grellen Farben, in denen jede Wand, jedes Haus, jedes Stockwerk, jede Säule und jeder Tempel gestrichen waren. In manchen besonders hohen Gebäuden waren die obersten Stockwerke mit Hängebrücken aus

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