Volk der Verbannten
seinen Schenkel gefahren, als seine Wunde sich wieder geöffnet hatte.
Dann Schwärze.
Als er einige Stunden später das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er begriffen, dass sie alle beide - alle
drei - noch am Leben waren. Und dass niemand nach ihnen gesucht hatte.
Er würde wohl nie erfahren, warum die Wachen nicht gekommen waren, um ihnen den Gnadenstoß zu versetzen. Vielleicht, weil man sie für tot gehalten hatte. Vielleicht, weil niemand sich in diesem Labyrinth aus Korridoren und Gebäuden mehr erinnerte, wie man zu der kleinen, geheiligten Tür der Gärtner gelangte, die den einzigen Zugang zu diesem Hof bildete - eine geweihte Tür, die in einen Luftschacht des Kellers führte und die sicher seit Generationen niemand mehr benutzt hatte.
Oder vielleicht auch, weil genau an jenem Tag die Nachricht eingetroffen war. Die Sakâs hatten die Berge überschritten - das hatte Arekh vier Tage später erfahren, als er den ersten Schreiber getötet hatte, einen jungen Mann, der ein Tablett mit Essen dabeigehabt und einen Fehler begangen hatte: Er hatte eine Abkürzung durch einen Gang des Weißen Gebäudes genommen, nicht weit entfernt von dem Zufluchtsort, an den Arekh die bewusstlose Lionor geschleppt hatte.
Abgesehen von dem Essen, das er sofort in ihren Schlupfwinkel gebracht hatte, hatte der Mann eine Reihe von Dokumenten bei sich gehabt. So hatte Arekh erfahren, dass der Krieg begonnen hatte.
Was für den Rest des Kontinents eine Katastrophe bedeutete, war für Arekh und Lionor ein Segen. Angesichts der Panik, die die Ratsversammlung erfasst hatte, der verängstigten Boten, die aus allen Königreichen eintrafen, der Delegationen, die protestierten, verhandelten oder flehten, hatten die Seelenleser andere Sorgen, als nach zwei Flüchtlingen zu suchen, die sie vermutlich ohnehin für tot hielten.
Und so hatten Lionor, Arekh und das Kind sich langsam, ganz langsam, erholen können, Atemzug für Atemzug, Tag für Tag, wenn die Stunden im Geheimzimmer sich in die Länge zogen und das goldene Licht der Sonnenstrahlen zwischen den Brettern hindurchdrang, um träge Kreise auf den Boden zu malen, und Nacht für Nacht.
Arekh betrachtete sie einen Moment lang: die junge Frau, die so zart wirkte, das schlafende Kind an ihrer Brust. Zu wissen, dass sie lebten - und das wider Erwarten und durch seine Hilfe -, vermittelte ihm den Eindruck, ein zerbrechliches Wunder mitzuerleben wie damals, als er Non’iama und Marikani der Umklammerung der Wüste entrissen hatte. Zwei Leben zu retten, während täglich Tausende im Chaos starben - das war so absurd, dass es fast schon tröstlich war.
Das Kind hustete.
Es hatte nie zu husten aufgehört. In der schmutzigen, feuchten Umgebung der Zelle, in der Kälte und der eisigen Luft war ihm irgendetwas zugestoßen, und alle Milch und alle Liebe, die es von Lionor erhielt, hatten es nicht ganz heilen können. Manchmal schlief der Kleine für ein oder zwei Nächte ruhig, und Lionor begann wieder zu hoffen. Dann begann er wieder zu husten, und sein kleiner, allzu bleicher Körper wurde schier von diesem rauen Laut zerrissen, der zu tief für ihn klang.
Aber der Säugling hatte kein Fieber, und Arekh, der schon viele Menschen am Fieber hatte sterben sehen, hielt das für ein gutes Zeichen.
Der erste Hustenanfall weckte Lionor nicht; nur ihre Lider zuckten leicht wie unter dem Einfluss eines Traums. Der zweite war zwar schwächer, ließ sie aber zusammenzucken.
Einen Moment später hatte sie sich aufgerichtet und die Augen weit geöffnet; sie sah sich panisch um.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte Arekh und legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. »Alles ist gut. Ich bin es nur.«
Lionor sah ihn einen Moment lang verstört an, senkte dann den Kopf und kam wieder zu sich. Das Kind hatte in ihren Armen die Augen aufgeschlagen - große, braune, glänzende Augen.
»Arekh«, seufzte Lionor, als wolle sie sich für ihre Reaktion entschuldigen. »Gut.« Sie streckte sich und lächelte dann traurig. »Wie steht es um die Beute?«
»Geld und Nachrichten, die ich noch nicht gelesen habe.« Arekh ließ die Schriftrollen zu Boden fallen. »Eine ganze Menge Geld«, fügte er hinzu und zeigte ihr den Inhalt der Börse. »Zu meiner Zeit waren Assistenten noch nicht so gut bezahlt.«
»Vielleicht war der hier ein Sohn aus gutem Hause«, sagte Lionor melancholisch.
Sicher dachte sie an die Männer aus der Familie ihres Mannes - die Schwäger, Neffen und Cousins, die
Weitere Kostenlose Bücher