Volk der Verbannten
Seilen und Brettern verbunden, um Kunden und Besuchern zu gestatten, leichter von einem Gebäude ins andere zu gelangen, ohne sich ins Durcheinander auf den Straßen begeben zu müssen. Reynes war ein grandioser, erdrückender Dschungel aus spitz zulaufenden oder runden Dächern, Gassen und Farben, in dem sich eine lebendige, geschäftig umhereilende Menge drängte.
Der Kontrast zu den klassischen Gebäuden der Ratsversammlung, die aus nacktem, ockerfarbenem Stein bestanden, hätte nicht größer sein können, und einem Neuankömmling wie Lionor konnte es durchaus den Atem verschlagen. Hier und da stachen auf benachbarten Hügeln andere Gebäude mit klaren Linien und unbemaltem Stein - Tempel und Verwaltungsgebäude - aus diesem bunten Gewirr hervor. Hinter ihnen ragte im Herzen des Regierungsviertels der Große Tempel von Reynes auf, viereckig und eisig. Seine schlichte, hohe Form zeichnete sich vor dem blauen Himmel ab.
»Möge Arrethas uns beschützen«, murmelte Lionor und begann plötzlich zu lachen - ein offenes, glückliches Lachen, erleichtert und frei, zum ersten Mal seit langer Zeit … Oder überhaupt zum ersten Mal für Arekh, der Lionor noch nie hatte lachen hören.
Sie sog die kalte Luft tief ein und drehte sich um sich selbst, als wolle sie die ganze Umgebung in Augenschein nehmen. »Wie seltsam«, sagte sie. »Es ist zu viel … zu viel von allem. Man fühlt sich erdrückt, und doch haftet allem ein Geschmack von Freiheit an.« Sie seufzte, wandte sich den Gebäuden der Ratsversammlung zu, die sie gerade verlassen hatten, und erschauerte. »Wie lange waren wir da drin? Wir sollten uns vielleicht entfernen. Es scheint zwar unmöglich, dass sie uns in einer Stadt wie dieser wiederfinden können, aber …«
»Oh, das können sie«, erklärte Arekh und ging los. »Sie können viel. Jedenfalls haben wir keine Zeit zu verlieren. Wir müssen den Schlepper finden.«
Reynes, die Stadt der dreizehn Hügel, war von drei Mauerringen umgeben, die selbst zu Friedenszeiten scharf bewacht wurden. Die Identität aller, die kamen und gingen, wurde festgehalten, ihre Gründe wurden überprüft, die Gewerbescheine in Augenschein genommen. Händler und Reisende hatten zwar schon oft bei der Ratsversammlung gegen die unendlich langen Wartezeiten protestiert, doch immer erfolglos, und der Mehrheit der Stadtbevölkerung war das Problem ohnehin gleichgültig. Die meisten Einwohner von Reynes hatten die Stadt ihr ganzes Leben lang noch nicht verlassen und würden das auch sicher nie tun. Ganze Generationen wuchsen hier auf, häuften Vermögen an, die sie ihren Kindern vermachten, deren Enkelkinder noch etwas davon hatten, deren Urenkel dann alles verschleuderten, ohne dass auch nur einer von ihnen jemals sein Stadtviertel verlassen hatte. Doch dem Vernehmen nach gab es keine besseren Kenner fremder Kulturen als die Einwohner von Reynes. Kaufleute,
Diplomaten, Künstler, Reisende, Schaulustige und Einwanderer kamen aus allen Gegenden des Kontinents hierher und hatten Reynes zu einem der vielseitigsten und lebhaftesten Orte der Königreiche gemacht.
Aber ganz gleich ob Kaufmann oder Künstler, Adliger oder Bauer: Niemand durfte ohne einen Passierschein durch den Mauerring. Wenn eine Verurteilung einen daran hinderte, einen zu erhalten, wurde die Stadt zu einem Gefängnis. Um hinauszugelangen, gab es für Verbrecher, politische Verurteilte und alle anderen, die fliehen mussten, nur eine Lösung: einen Schlepper zu bezahlen, der sie illegal auf die andere Seite bringen konnte.
Arekh und Lionor gingen den Hügel aufs Geratewohl ein wenig hinab, erst zwischen Marktständen hindurch, dann durch ein Labyrinth farbenprächtiger Gassen, die vor Passanten förmlich überquollen; sie spürten, wie ihre Energie neu erwachte.
Lionor schien sich mit jedem Schritt ein wenig mehr aufzurichten und Kraft zu schöpfen. Sie sog den Duft des kochend heißen Tees ein, den fliegende Händler gezuckert und mit Zimt und Pfeffer gewürzt verkauften; sie sah den kleinen Mädchen in bunten, geflickten Kleidern nach, die umherliefen und die Schmuckstücke aus Silber und Steinen funkeln ließen, die sie in den Händen hielten: »Drei Halsketten für nur zehn Reyneser Sians! Nur zehn Reyneser Sians! Kommt nach Hause und bringt die Augen eurer Liebsten für nur zehn Sians zum Leuchten!« Fladen mit dreierlei Zwiebeln, Piment und Tomaten rösteten auf Metallplatten, die auf schmiedeeisernen Füßen über behelfsmäßigen Feuerstellen standen.
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