Volk der Verbannten
»Ein Reyneser Sian der Fladen, schöne Dame! Wärmt Euren Körper für nur einen Sian auf! Meine Tochter bereitet die Fladen
selbst zu, und sie ist mit fünfundzwanzig Jahren noch Jungfrau, das bringt Glück!« Man musste nur den Kopf heben, um Statuen der Götter, Halbgötter und Helden zu sehen, von denen die Farbe abblätterte, die etwas blasser war als die derjenigen in der Nähe des Ratsgebäudes. In diesen volkstümlichen Vierteln hatten die Bewohner weniger Geld.
Weiter oben lagen andere Türme, die nur vier oder fünf Stockwerke hoch waren, aber immer noch ausreichten, Lionor zu beeindrucken, die stolperte, weil sie die Augen nicht von den Metallspitzen abwenden konnte, die auf den Dächern befestigt waren - Spitzen, die in den Himmel aufragten und mit ihren metallenen Voluten Arabesken und Schutzrunen formten und ebenso sehr zur Ehre der Götter wie als Blitzableiter dienten.
Ein Trupp von dreißig Reitern galoppierte über den Markt; die schwarz-silbernen Rüstungen erinnerten die Menge, die sich dort drängte, daran, dass an der Grenze der Krieg tobte. In der Nähe eines kleinen Tempels fand eine Trauerfeier für dreißig Gefallene statt - allesamt Rekruten. Klageweiber hatten die rituellen Gesänge angestimmt, und Lionor blieb einen Moment lang stehen, um eine junge, schwangere Frau zu beobachten, die weinend einen kleinen, kaum zweijährigen Jungen an sich drückte. Die Brust der jungen Frau hob und senkte sich ruckartig; ihr ganzer Körper schien vor Schmerz zu wogen. Arekh zog sacht an Lionors Arm, um sie wegzuführen; es trafen Werber ein, die in rot-schwarzer Uniform vor der Menge flammende Reden hielten, um junge Männer zu drängen, sich zu verpflichten. Noch weiter entfernt sahen sie, dass jemand unbeholfen einen der blutigen Sterne an die Wand gemalt hatte, die für die Geschöpfe des Chaos standen.
Sicher war es nur ein Kinderstreich, aber er zog doch aufgeregte und leicht verstörte Schaulustige an.
Die Adresse, die Arekh erhalten hatte, gehörte zu einem Brot- und Lebensmittelgeschäft unterhalb eines Turms. Der Laden führte so tief ins Gebäude hinein, dass man hätte glauben können, er sei in Fels gehauen. Er war eher ein Korridor als ein echtes Ladenlokal, ein kaum zwei Schritt breiter Gang, an dessen Ende Fladen und Gewürzsäcke aus Baumwolle von minderer Qualität willkürlich auf Holzregalen verteilt zu sein schienen.
Warum hätte sich jemand an diesen finsteren, übelriechenden Ort vorwagen sollen, um Brot zu kaufen, das man doch frisch und goldbraun an den Marktständen erhalten konnte? Die Antwort verbarg sich im muffigen Geruch und in den Schimmelflecken, die auf den Brotkrusten sichtbar waren. Hierher kamen keine Kunden.
Zumindest nicht, um Brot zu kaufen.
Der Mann, der auf dem Metallstuhl am Ende des »Korridors« saß, war in den Schatten beinahe unsichtbar. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und trug Kleider aus schwarzer Baumwolle; seine Raubvogelaugen beobachteten jeden Schritt, den Lionor und Arekh machten, um zu ihm zu gelangen.
Schließlich blieben sie stehen. Das schlafende Kind regte sich, wimmerte ein bisschen und krümmte sich in den Armen seiner Mutter zusammen. Lionor nahm den Schal ab, um den kleinen, zitternden Körper darin einzuhüllen. Der Temperaturunterschied zwischen den belebten Straßen unter der Herbstsonne und diesem feuchten Erdloch war beträchtlich.
Der Mann sah ihr zu, ohne etwas zu sagen.
»Mas Dravec«, sagte Arekh. »Das ist der Mann, den ich sehen will.«
»In welcher Angelegenheit?«
Die Stimme war ausdruckslos, kalt. Der Blick prüfte und beurteilte sie. Arekh wusste, wonach sie aussahen: nach einem verängstigten Krämerpärchen, das vom Krieg ruiniert war und nun dem Schuldgefängnis zu entgehen versuchte. Ein Pärchen in äußerster Bedrängnis, verzweifelt genug, alles Mögliche zu glauben oder zu tun.
»Wir wollen Reynes verlassen«, sagte Arekh, der keine Lust hatte, in Andeutungen zu sprechen. »Wir brauchen einen verlässlichen Schlepper«, fuhr er in geschäftsmäßigem Ton fort, »und man hat mir gesagt, wir könnten hier einen finden. Stimmt das, oder müssen wir anderswo suchen? Ich habe keine Zeit zu verlieren.«
Arekhs Tonfall überraschte den Mann, der seinen ersten Eindruck wohl noch einmal überdacht hätte, aber ein Blick auf Lionor, ihr verhärmtes Gesicht, ihren verlorenen Blick und den Säugling ließ ihn zu seiner ursprünglichen Verachtung zurückkehren.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte
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