Voll das Leben (German Edition)
Lehnstuhl. Er hatte die Füße hochgelegt und blickte ihn desinteressiert über den Rand einer Zeitung an. Die Schlagzeilen sahen türkisch aus, was zum südländischen Äußeren des Mannes passte. Er schien ein wenig älter als Jan zu sein und strahlte etwas aus, das beruhigend wirkte.
„Wie viel kostet es für die ganze Nacht?“, fragte Jan zittrig. Die Wärme machte erst richtig deutlich, wie ausgekühlt er wirklich war. Wie groß die Angst war, die ihn hereingetrieben hatte.
Der junge Mann musterte ihn von oben bis unten, schien mit Jans sauber rasiertem Gesicht und den beinahe ordentlichen Klamotten zufrieden und wandte sich ihm nun richtig zu. Jan hatte sich sorgsam zurecht gemacht, bevor er seine alte Wohnung endgültig verlassen hatte. Wenn schon, dann wollte er eine gepflegte Leiche abgeben. So albern das auch sein mochte, wenn man plante, in einen Fluss zu springen.
„Wie viel hast du?“, fragte der junge Mann schließlich.
„Hun… neunzig Euro.“ Einen Zehner musste er für Essen aufheben.
„Du willst bleiben, solange das Geld reicht? Oder nur bis morgen früh?“
„Solange es reicht.“
Erst jetzt wurde Jan bewusst, dass diese Fragen etwas seltsam waren. Sah man ihm an, dass er obdachlos war?
Der Mann nickte und warf ihm einen Schlüssel zu.
„Vorauszahlung. Du kannst bis Ende der Woche bleiben, sofern du mir keinen Kummer machst. Keine Drogen, keine Zigaretten im Bett, kein Randalieren im Suff.“
Jan nickte brav und legte die zerknitterten Geldscheine auf den Tresen, froh, sie los zu sein. Jetzt konnte er sie nicht mehr zurückgeben. Eine Versuchung weniger.
Sein Zimmer war kaum größer als eine Hutschachtel, fensterlos und bestand in erster Linie aus einem breiten Bett mit einer Matratze, die wie eine Hängematte durchhing. Durch die Wände drangen Stöhnen, unverständliche Worte und rhythmisches Quietschen von Bettgestellen.
Dafür war es warm, die Bettwäsche frisch und alles leidlich sauber.
Jan kuschelte sich unter die Decke. Obwohl er sicher gewesen war, in dieser Umgebung kein Auge zutun zu können, schlief er bereits ein, kaum dass er die Lider geschlossen hatte.
~*~
AUSHILFE GESUCHT
Jan war bereits an dem Schild im Fenster vorübergegangen, bevor er verinnerlichte, was dort stand und zurückging.
Das zweistöckige Haus war typisch für das gesamte Viertel: graue Fassade, alles ein wenig heruntergekommen. Es war das einzige Haus ohne Graffiti, bemerkte er verwirrt. Ein weiteres Schild neben der Haustür wies es als einen Fahrradkurierdienst aus. Jetzt fielen Jan auch die Räder auf, die vor dem Haus standen, allesamt schwarz lackiert und bestens ausgestattet. Seltsamerweise waren sie nicht abgeschlossen, was bei dieser Gegend eigentlich eine Einladung an jeden Gelegenheitssucher sein müsste.
Jan schluckte den letzten Bissen des trockene Brötchens, das er sich von seinem kargen Essensgeld geleistet hatte und marschierte impulsiv zu der verglasten Tür, hinter der er eine Art Büro erkennen konnte: Ein riesiger weißer Rundschreibtisch nahm mindestens ein Viertel des Raumes ein, der Rest wurde von Aktenschränken und einer kleinen Sitzgruppe ausgefüllt.
Jan war nie impulsiv gewesen. Er war allerdings auch noch nie so depressiv gewesen, dass ihm keine Kraft mehr zum Denken oder Handeln blieb. Was konnte es schaden nachzufragen, ob er hier als Aushilfe anfangen könnte? Als Fahrradkurier musste man keine qualifizierte Ausbildung vorweisen und Geld verdienen brachte ihn von der Straße weg.
Ein älterer Mann saß am Schreibtisch und tippte im Zwei-Finger-Suchsystem Daten in eine Exceltabelle. Jan hätte ihm sagen können, dass er viel zu umständlich arbeitete, aber diesen Impuls unterdrückte er hastig. Dafür war er nicht hier!
„Entschuldigung“, sagte er schüchtern, da der Mann ihn offenbar nicht gehört hatte. Er sah Jans Vermieter vom Stundenhotel recht ähnlich, das mochte allerdings Einbildung sein.
„Sie suchen eine Aushilfe?“
Der Mann musterte ihn interessiert, bevor er ihm ein Lächeln schenkte und nickte.
„Warum sollte ich dir den Job geben?“, fragte er.
Berechtigte Frage …
Verlegen spielte Jan mit dem Reißverschluss seines Rucksacks, den er wie einen Schutzschild vor dem Bauch hielt. Er könnte sich entschuldigen und einfach weggehen. Er könnte irgendeine Lüge erzählen. Nutzen würde es ihm nichts.
„Ich brauche das Geld“, platzte es schließlich aus ihm heraus. „Ich wohne im Moment in dem Stundenhotel drei Häuser
Weitere Kostenlose Bücher