Voll das Leben (German Edition)
trotz seines Lachens distanzierter als seine weiblichen Verwandten, allerdings nicht unfreundlich dabei. Vollgepackt wurde Jan zurück in die Küche gescheucht, wo er auf Ferrit traf. Der lobte das Ergebnis der vereinten familiären Mühen, winkte mit einem Paket und überreichte Jan ein Handy.
„Es ist gesperrt, du kannst damit bloß mich, Polizei und Feuerwehr anrufen. Wenn unterwegs mal was ist oder ich dich erreichen muss, ist das Ding wichtig. Bring dein Zeug rüber zu Mustafa und beeil dich. Das hier muss in einer Stunde in der Promenadenstraße sein.“
Jan atmete befreit auf, als er sich in seinem stillen, kleinen Zimmerchen befand. Eine kurze Atempause nur, er freute sich darauf, sich gleich wieder auf sein Fahrrad zu schwingen, so seltsam das auch sein mochte. Der Mann, der wochenlang nicht fähig gewesen war, sich ein Glas Wasser zu holen, wenn er Durst hatte, war fort. Der Mann, der all seine Habe dem Pfandleiher überlassen hatte, bis er kein Geld mehr übrig hatte, den gab es nicht mehr. Der Mann, der gestern auf einem Brückenpfeiler gehockt und versucht hatte, sich umzubringen, der war Lichtjahre entfernt. Das war ein anderes Leben gewesen. Eines, das jetzt endlich vorbei war. So stand es zu hoffen.
~*~
„Jan, ich hab hier eine dringende Lieferung, kannst du kommen?“
„Klar, Chef.“
Jan drückte das Gespräch weg und raffte sich leise seufzend hoch. Seit sechs Monaten fuhr er nun schon für Ferrit. Dass er ihn ‚Chef’ nannte, hatte sich recht schnell eingebürgert. Manchmal kam Jan von früh bis spät nicht aus dem Fahrradsattel, manchmal gab es tagelang wenig bis gar nichts für ihn zu tun. Ferrit beschäftigte drei festangestellte Kurierfahrer, mit denen Jan selten zusammentraf. Er war die einzige Aushilfe. Was er verdiente reichte aus, um die Dachkammer zu bezahlen, die er in Mustafas Hotel mittlerweile bezogen hatte. Hier besaß er fünfzehn Quadratmeter Ruhe und Privatsphäre, größtenteils ungestört von dem Lärm der anderen ‚Gäste’. Zu seinem Wohn- und Schlafraum gehörte noch ein winziges Bad mit einer Dusche für ihn allein. Sein restliches Geld ging vollständig für Essen, die Münzwäscherei und Hygieneartikel drauf. Ferrit war unerbittlich, was das makellose Erscheinungsbild seiner Fahrer betraf.
Würde Birgül, Ferrits Frau, ihn nicht regelmäßig mit durchfüttern – „Du brauchen Kraft für Fahren!“ – hätte er häufig hungern müssen. Für Luxus oder Freizeitvergnügen blieb ihm kein Cent. Doch das störte Jan nicht. Wenn er nicht im Sattel, in Birgüls Küche oder spielend mit den Enkelkindern von Ferrit am Boden saß, lag er in seinem Zimmer auf dem Bett und starrte stundenlang ins Leere. Es war, als würde die Maske von ausgeglichener, gelassener Heiterkeit vor der Tür liegen bleiben. Hier, in seinem Reich, fehlten ihm die Kraft und der Antrieb, irgendetwas zu tun. Manchmal musste er sich mit Gewalt dazu zwingen aufzustehen und wenigstens etwas zu trinken. Er hasste es. Ein Dreivierteljahr nach Dennis’ Tod sollte es wirklich langsam bergauf mit ihm gehen! Er könnte sich einen weiteren Aushilfsjob für die Wochenenden suchen, dann könnte er sich zwischendurch etwas leisten und müsste nicht von Samstagmittag bis Montagmorgen im Nichts dahindämmern. Er besaß keinen Fernseher, und das Radio, das ihm einer von Ferrits Neffen geschenkt hatte, als der zu Besuch war, stand sinnlos auf dem Tisch herum und wartete darauf angeschlossen zu werden. Für Bücher oder Zeitschriften hatte er kein Geld, und überhaupt, stilles Dahingleiten und schönen Erinnerungen nachzuhängen reichte doch aus …
Mariam schimpfte manchmal mit ihm, dass er gefälligst aus seinem Loch herauskriechen und mehr am Leben teilnehmen sollte. Ferrit drängte, er solle abends mal ausgehen – das Finanzielle ließe sich regeln – damit er Leute kennenlernte. Sich verlieben konnte, wie es sich für junge Männer wie ihn gehörte.
Jan lächelte und nickte dann immer nur. Er erzählte nie etwas über sein altes Leben, sämtlichen Fragen wich er geschickt aus. Sie wussten also nur das über ihn, was sie bereits am ersten Tag erfahren hatten. Er sah selbst ein, dass es nichts anderes als eine Flucht vor sich selbst gewesen war, aus Angst, sich der Realität zu stellen, als er hier gestrandet war. Dass er jetzt zwar nicht mehr floh, doch sich versteckt hielt. Wozu sollten sie das wissen? Sie würden weder besser noch schlechter von ihm denken. Er fühlte sich wohl, so wie die
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