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Voll das Leben (German Edition)

Voll das Leben (German Edition)

Titel: Voll das Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
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niedergelassen hatte. Auf der anderen Seite der Scheibe befand sich ein recht großzügiger, gepflegter Garten, mit leeren Blumenbeeten, Obststräuchern und blattlosen Bäumen. Ein seltsamer Anblick für eine Gegend wie diese. Am liebsten wäre Jan jetzt dort draußen, trotz Nieselregens und der herbstlichen Kahlheit.
    „Füll das hier bitte aus, es ist für die Versicherungsanmeldung und so.“ Mariam lächelte ihm freundlich zu und ging hinaus.
    Wie betäubt starrte Jan auf die Papiere. Das Tempo von Ferrit und seiner Familie überforderte ihn. Sie schienen sich um ihn kümmern zu wollen, nachdem sie ihm jetzt offensichtlich vertrauten, dass er weder ein Junkie noch ein Dealer war und bereit war zu arbeiten. Ob er tatsächlich gleich etwas zu Essen bekam? Eine deutsche Firma hätte ihn nicht einmal angestellt, geschweige denn für sein Wohl und Wehe gesorgt …
    Mechanisch begann er zu schreiben, wobei er unter ‚Adresse’ zögerlich Mustafas Hotel angab.
    Mariam kam bald zurück, mit einer älteren Frau im Schlepptau, die sicherlich ihre Mutter war. Sie trug ein elegantes, schwarzes, mit Goldfäden besticktes Kopftuch zu einem schwarzen Kleid und entsprach mit ihrer kleinen kugelrunden Gestalt dem Abziehbild einer jeden türkischen Mama. Wie ein Wasserfall plapperte sie auf ihn ein, in Türkisch, vermischt mit deutschen Worten. Jan musste aufstehen, er wurde vermessen, gedreht, gewendet, musste seine Schuhe vorzeigen, wurde für den Zustand seiner Haare und Fingernägel ausgeschimpft und durfte sich dann wieder setzen. Mariam stand grinsend die ganze Zeit daneben, notierte auf einem Zettel Zahlen, die ihre Mutter ansagte und lachte, wann immer sie Jans hilfesuchendem Blick begegnete. Bevor sie ihrer Mutter hinausfolgte, legte sie ihm den Silberanhänger in die Hand, den sie mit einem Lederband versehen hatte. Schnell streifte er ihn über den Kopf, damit es ihm niemand mehr abnehmen konnte.
    „Der Mann auf den Fotos, ist das dein Bruder?“, fragte sie leise.
    Mit heißen Wangen schüttelte Jan den Kopf. Er hatte sich selten für seine Homosexualität geschämt – eher für diejenigen, die ihn dafür verachteten –, wusste allerdings nicht, ob er sie hier ebenso stur vertreten konnte wie in seinem anderen Leben. Über die türkische Kultur und den Islam wusste er wenig, lediglich, dass Schwule als krank betrachtet wurden, war ihm aus den Nachrichten bekannt. Doch Mariam lächelte nur entspannt.
    „Wo ist er?“
    „Tot.“ Jans Finger krampften sich um den Anhänger. Hastig wandte er den Blick ab und konzentrierte sich auf die Formulare.
    Keine Viertelstunde später fand sich Jan in einer Großküche wieder. Während er versuchte, ein Reisgericht mit Lammfleisch, viel Gemüse und scharfen Gewürzen zu essen, bearbeitete Mariam seinen Kopf mit einem Langhaarschneider. Wie sie das schaffte, ohne ihm Haare ins Essen zu verteilen, blieb ihr Geheimnis. Ihre Mutter schwatzte fröhlich auf ihn ein, überwachte die Arbeit eines etwa zehnjährigen Mädchens, das Kohlblätter füllte und diskutierte nebenher mit Mariam über einen Mann in Jans Alter, der noch immer nicht verheiratet war. Es schien Mariams Bruder zu sein, vielleicht auch ihr Cousin. Es war laut, hektisch, für jemanden ohne Türkischkenntnisse frustrierend – und es war Familie. Diese Menschen akzeptierten einen Fremden wie ihn mit erschütternder Selbstverständlichkeit. Ihre offene Herzlichkeit war überwältigend und so gut …
    Der heiratsunwillige Mann erschien, wehrte die Vorwürfe seiner Mutter ab – sofern Jan das Gespräch anhand von Gestik, Mimik und gelegentlichen deutschen Floskeln verstand –, lachte dabei die meiste Zeit über und blinzelte Jan sogar verschwörerisch zu. Er hieß Achmad, Jan musste mit ihm in einen Keller gehen, nachdem er fertig abgefüttert und frisiert war. Der Raum war überfüllt mit vollgepackten Umzugskartons, durch die sich Achmad mit Mariams Zettel in der Hand wühlte, bis er fand, was er gesucht hatte. Jan wurde ohne große Worte mit mehreren Jeans, T-Shirts, Pullis, Unterwäsche und Schuhen überhäuft. Alles in seiner Größe und zeitlos in Farbe und Schnitt.
    „Das ist nicht nötig!“, versuchte Jan abzuwehren, als Achmad immer noch mehr Klamotten aus verschiedenen Kartons zog. Manche waren originalverpackt, andere schienen zumindest einige Male benutzt worden zu sein, waren aber tadellos sauber und in Ordnung.
    „Wir haben mehr, als wir brauchen.“ Mehr sagte Achmad die ganze Zeit über nicht, er war

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