Voll das Leben (German Edition)
weiter. Hab nichts anderes mehr. Bis Ende der Woche kann ich bleiben.“ Er schaute auf und begegnete dem kritischen Blick des Mannes. „Ich will nicht auf der Straße landen.“ Er räusperte sich und wartete auf die unvermeidliche Absage – doch sein Gegenüber lächelte weiterhin.
„Überzeug mich“, forderte er Jan auf. „Geld braucht jeder, was hast du zu bieten?“
„Ich kenne mich in der Stadt gut aus und …“ Unschlüssig senkte Jan den Kopf, als ihm kein Argument mehr einfiel. Er könnte behaupten, sehr zuverlässig zu sein, nur, wie sollte er das beweisen?
„Zeig mir deine Arme.“
Schwarze Augen blickten freundlich auf ihn herab. Jan stellte den Rucksack ab, zog die Jacke aus und präsentierte seine makellosen nackten Arme.
„Ich nehme wirklich keine Drogen“, versicherte er leise.
„Du kannst mich Ferrit nennen.“ Der Mann ließ ihn einfach stehen. Bevor Jan sich überlegen konnte, ob er nicht doch besser abhauen sollte, war Ferrit bereits zurück, überreichte ihm einen silbernen Fahrradhelm, einen Quittungsblock und ein kleines Päckchen.
„Kennst du die Adresse?“, fragte er sachlich.
„Klar. Das ist nicht allzu weit von hier.“ Jan hatte sich mittlerweile anhand der Straßenschilder orientieren können.
„Du hast bis 14.00 Uhr Zeit, das Päckchen abzuliefern und mit der Quittung wieder hier aufzutauchen. Danach entscheide ich, ob ich dich gebrauchen kann. Nimm eines der Räder draußen. Außerhalb dieser Straße musst du abschließen, sobald du es abstellst.“
Keine zwei Minuten später fuhr Jan bereits in Richtung Altstadt. Er hatte über drei Stunden Zeit für seinen Auftrag, darum hetzte er sich nicht ab. Zu lange hatte er keinen Sport getrieben und er spürte deutlich, dass seine Muskeln gegen die Anstrengung protestierten.
Trotzdem schaffte er es rasch, das Päckchen bei einer Autoverleihfirma abzugeben und stand eine knappe Stunde später wieder vor Ferrit. Jan war in Schweiß gebadet, seine Beine schmerzten, aber Ferrits anerkennendes Lächeln machte ihn stolz. Ein Gefühl, das er lange nicht mehr erfahren hatte.
„Du bist langsam, was sich mit ein bisschen Übung bald geben wird.“ Er musterte Jan einmal mehr von oben bis unten.
„Hast du noch mehr Klamotten?“
Jan schüttelte beschämt den Kopf.
„Du musst immer sauber, rasiert und ordentlich angezogen sein, unsere Kunden wollen nicht von Pennern beliefert werden. Gib mir deinen Rucksack.“
Ohne weitere Umstände pflückte Ferrit ihm den Rucksack aus den Händen und kippte den Inhalt auf den Schreibtisch.
„Deine letzte Habe, ja?“
„Hm.“ Jan war zu beklommen, um sprechen zu können. Er wollte am liebsten schreien, als Ferrit die Fotos von ihm und Dennis betrachtete, in seinem Familienstammbuch blätterte und den Kettenanhänger vom Mittelaltermarkt prüfend ins Licht hielt.
„Du hast den Job“, sagte er dabei nebenher. „Ich lege die Sachen bei mir in den Safe, du kannst sie jederzeit wiederholen. – Ah, du hast kein Geld mehr, richtig?“ Ferrit zückte ein Handy, sprach kurz auf Türkisch in den Hörer und nickte ihm dann zu.
„Deine Miete ist geregelt. Das Stundenhotel gehört einem meiner Schwiegersöhne, ich bezahle dein Zimmer direkt von deinem Gehalt. Mariam?“
Eine junge Frau steckte den Kopf durch die Tür. Sie war bildschön, versteckte ihr blauschwarzes Haar nicht unter einem Kopftuch und wirkte auch sonst in jeder Hinsicht westlich-modern mit ihrer blauen Jeans, der roten Wickelbluse und dem dezenten Make-up.
„Das ist Jan, unser neuer Aushilfsfahrer. Nimm seine Personalien schon mal auf und sieh zu, dass er etwas isst.“
Stirnrunzelnd wandte Ferrit sich wieder zu ihm um.
„Das ist meine jüngste Tochter. Behandle sie mit Respekt, als sei sie deine kleine Schwester. Mariam, sag deiner Mutter, sie soll gleich nachsehen, ob wir noch Sachen in seiner Größe haben.“
Er sammelte Jans Fotos und Dokumente ein und verschwand damit. Lediglich den Anhänger ließ er auf dem Schreibtisch liegen. Den nahm Mariam an sich, bevor Jan auch nur die Hand danach ausstrecken konnte und winkte ihm zu, ihr zu folgen.
„Bei Mustafa ist dein Zeug nicht sicher, in diesem Hotel läuft die ganze Zeit Gesocks herum“, knurrte sie verächtlich und bewies damit, dass sie mindestens den größten Teil seines Gespräches mit ihrem Vater belauscht haben musste.
Sie führte ihn in ein kleines Büro, wo sie mehrere Formulare vor ihn hinlegte, nachdem er sich an einem Tisch am Fenster
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