Voll das Leben (German Edition)
Dinge liefen. Meistens jedenfalls. Auch wenn er wusste, dass sein Dasein noch immer ein zu großer Karton mit viel zu wenig Inhalt war.
Jan winkte Mustafa im Vorbeigehen zu, wich einem wild knutschenden Pärchen aus, das es anscheinend nicht einmal bis auf das Zimmer schaffen würde und ging rasch zu Ferrit hinüber.
Der warf ihm einen Briefumschlag zu, ohne von seiner Email aufzusehen. Jan hatte ihm mittlerweile sämtliche Programmabläufe neu organisiert, wodurch Ferrit mindestens dreimal so schnell seine Buchführung abwickeln konnte. Die Frage, woher er das konnte, hatte er ignoriert. Die Frage, warum er nicht versuchte, irgendwo als Webdesigner oder einem anderen Job dieser Art unterzukommen, stellte er sich selbst gelegentlich. Aber was hatte er schon vorzuweisen außer einem abgebrochenen Studium und Erfahrungen in einem Job, aus dem er wegen Unzuverlässigkeit gekündigt worden war? Wer würde ihn nehmen bei der Konkurrenz da draußen?
Der Umschlag war dünn, vermutlich wichtige Dokumente. Jan suchte routiniert nach der Adresse auf dem Umschlag, plante im Kopf bereits die Strecke – und erstarrte.
Maximilian Lehmann, stand im Briefkopf.
Diese Sendung war für Max bestimmt. Und ja, es war die Firmenadresse, wieso hatte er das nicht auf dem ersten Blick erkannt?
Für einen Moment schloss er die Augen. Verdammt, er hatte die ganze Bande gerade so schön verdrängt! Der Gedanke, Max, Kevin, Thorsten und vor allem Nick zu begegnen war absolut erschreckend …
„Alles klar?“, fragte Ferrit.
Jan zögerte. Er könnte die Lieferung ablehnen, indem er behauptete, krank zu sein. Unwohlsein, Kopfweh, das konnte niemand nachvollziehen. Dann aber zuckte er innerlich die Schultern. Sie würden ihm nichts tun. Fragen konnte er ignorieren, und wenn er den Kopf unten hielt, erkannten sie ihn vielleicht gar nicht. Wer achtete schon groß auf den Briefboten? Er zwang sich zu einem Lächeln und nickte Ferrit zu, der ihn mittlerweile aufmerksam beobachtete.
„Alles klar, Chef. Wird etwas dauern, das ist doch ziemlich weit entfernt.“
Zuerst lief alles glatt. Kevin und Thorsten blickten durch ihn hindurch, als wäre er unsichtbar, und auch Max betrachtete nur den Briefumschlag, während er nebenher den Lieferschein unterschrieb. Nick war nirgends zu sehen, wofür Jan ihm unendlich dankbar war. Ihr letztes Zusammentreffen war in jeder Hinsicht furchtbar gewesen.
Als er sich allerdings umdrehte, ein kaum hörbares ‚Tschüss’ murmelnd, zuckte plötzlich Thorsten zusammen und ließ seine Kaffeetasse fallen. Die Sauerei auf Schreibtisch und Boden missachtete er vollständig, stattdessen glotzte er Jan aus großen Augen an.
„Jan?“, stieß er heiser hervor. Kevin fuhr herum. Mit einem Schritt war er bei ihnen und schaute ihn genauso fassungslos an.
„Max, Max, komm her, du glaubst es nicht!“, stammelte er.
„Jan?“
„Mein Gott, er ist es wirklich!“
„Wie geht es dir, Mann?“
„Es hieß, du bist tot!“
„Warum hast du dich nicht gemeldet?“
„Seit wann bist du Fahrradkurier?“
„Wo warst du bloß?“
Jan duckte sich unter der Flut von Aufmerksamkeit, die über ihn hereinbrach. Max drückte prüfend Jans Oberschenkel und pfiff anerkennend.
„Wow, sind das alles Muskeln? Radfahren bekommt dir gut!“
„Du bist ja richtig braun geworden.“
„Wir hatten uns echt Sorgen gemacht!“
Waren die jetzt allesamt verrückt geworden? Überfordert von so viel freundlichem Interesse riss Jan sich los und rannte zur Tür. Blindlings prallte er gegen ein Hindernis. Ein großes, nachgiebiges, lebendiges Hindernis.
Nick starrte ihn an, er erbleichte schlagartig, als hätte er einen Geist gesehen.
Jan drängte sich an ihm vorbei und jagte bereits die Treppe hinunter, als Nick rief: „Warte! Jan, warte doch!“
Das hatte er nicht vor, stattdessen lief er wie von Teufeln gehetzt zu seinem Rad, ohne sich umzublicken. Auf der Rückfahrt wurde er zwei Mal fast überfahren. Nick zu sehen, egal wie kurz, hatte ihn mehr erschüttert, als er je vermutet hätte. Viel mehr als die anderen drei, obwohl die ihm auf die Pelle gerückt waren. Ob das am schlechten Gewissen lag? Jan hatte völlig verdrängt, dass er Nick noch Geld schuldete …
~*~
„Wenn später einer nach mir fragt, Chef, könntest du mich dann bitte verleugnen?“
„Warum? Steckst du in Schwierigkeiten?“ Ferrit bedachte ihn mit einem dieser intensiven Blicke, die Jan zu fürchten gelernt hatte.
„Nein, es ist nur …“
Weitere Kostenlose Bücher