Voll das Leben (German Edition)
Seufzend ließ Jan Kopf und Schultern hängen. „Es ist diese Firma, wo ich eben war. Da hatte ich früher gearbeitet. Ich bin im Unguten gegangen und habe vorhin gemerkt, dass ich wirklich nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Da war nichts Illegales oder so, es – sie haben …“ Er senkte die Stimme zu einem beschämten Flüstern: „Sie haben mir sehr weh getan.“ Das klang so schwach. So jämmerlich.
„Und du hast Angst, dass sie jetzt kommen, um dir wieder weh zu tun?“
Jan nickte, obwohl es so nicht ganz stimmte. Seine Hände krampften, rasch schob er sie in die Taschen seiner schwarzen Cargo-Hose. Er wollte kein feiger Schwächling sein. Niemals wieder. Und Nick musste er das Geld zurückgeben. Danach wäre diese Vergangenheit endgültig abgeschlossen.
Ferrit legte ihm in einer väterlichen Geste den Arm um die Schultern.
„Das alles ist deine Entscheidung. Ich werde mich da nicht einmischen. Nur das eine: Es hilft selten, vor Problemen davonzulaufen. Sie neigen dazu, dir zu folgen, bis du sie löst oder sie dich fertigmachen.“
„Manchmal erledigen sich Dinge von selbst, wenn man sie hartnäckig genug ignoriert“, flüsterte Jan trotzig. „Aber ansonsten hast du natürlich Recht. Manche Probleme geben niemals auf, bis sie einen gefunden haben.“ Er löste sich von Ferrit und begegnete dem intensiven Blick, bemüht, ihm standzuhalten.
„Bitte, sag einfach, ich sei nicht da. Mir fehlt die Kraft dafür ...“
Ferrit klopfte ihm begütigend auf die Schulter und lachte freundlich.
„Keine Sorge. Du gehörst praktisch mit zur Familie. Wir passen auf dich auf, Jan Holgert.“
Jan nickte stumm, seine Kehle war wie zugeschnürt. Eine Familie, die für ihn da war, ihn akzeptierte, für ihn kämpfte – das hatte er nie zuvor besessen.
Als Jan gegangen war, sah Ferrit zu Birgül hinüber, die ihn mit verschränkten Armen von der Tür zu den Wohnräumen her anblickte und still lachte.
„Halte schon mal den Tee bereit. Mit ein bisschen Glück bekommen wir heute noch die Antworten auf unsere Fragen“, sagte er lächelnd.
„Du bist ein schlimmer Mann“, meinte sie kopfschüttelnd. „In alles steckst du Nase und Finger rein.“ Es klang liebevoll, und ihre Augen waren voller Wärme, als sie das sagte.
Ferrit seufzte zufrieden, als er ihr hinterher schaute. Er hatte eine Frau, die er liebte, Söhne, die ihn stolz machten, Töchter, die sein Herz mit Freude füllten, Enkel, die sein Haus vollkommen sein ließen, eine wichtige Aufgabe im Leben, genug Sorgen, um weder faul noch eitel zu werden – Allah meinte es gut mit ihm. Ferrit sprach ein Dankesgebet, bevor er sich wieder seinen Akten widmete. Jan war nicht sein einziges Sorgenkind, er durfte niemals nachlässig sein ...
~*~
Nick betrachtete die Fassade des unauffälligen zweistöckigen Hauses, in dem der Kurierdienst untergebracht war. Die Gegend hier war deutlich besser als befürchtet, erst zwei Straßenzüge weiter begann das Bahnhofsviertel, in das man sich nachts nicht allein wagen sollte. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er Jan nachspionieren sollte, aber er musste einfach wissen, ob es dem Kleinen wirklich gut ging. Ein halbes Jahr lang hatte er keine Nacht schlafen können. Die Angst, Jan könnte sich umgebracht haben, war rasch gewichen, als die Zeitungen nichts über den Fund einer Leiche brachten. Doch die Sorge, er könnte als Obdachloser im Winter irgendwo erfroren, verhungert oder sonst wie zu Tode gekommen, wollte nie weichen. Über den Tod eines Penners wurde schließlich nur berichtet, wenn der mitten in der Fußgängerzone von Punks erschlagen wurde.
Jeden Tag hatte Nick in den U-Bahn-Schächten und Parks, den Obdachlosenheimen und einschlägig bekannten Sammelstellen der Penner nach ihm gesucht. Irgendwann war die Angst zur Gewissheit geworden, mit gerade jenem winzigen Restzweifel, der ausreichte, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Die Schuld allein hatte Nick regelrecht aufgefressen. Warum hatte er ihn weglaufen lassen? Warum war er zu feige gewesen, ihn festzuhalten? Warum hatte er all die Jahre nicht wenigstens versucht, höflich zu ihm zu sein, statt sich hinter der Fassade des Schwulenhassers zu verstecken? Warum hatte er stets die scheinbar einfachere Lösung gewählt?
Ihn zu sehen, lebendig und offenbar gesund, war wie ein Schlag in den Magen gewesen. Nick gab sich einen Ruck.
Jan brauchte ihm nicht zu vergeben. Zu viel war geschehen. Trotzdem wollte er ihn um Verzeihung dafür bitten, dass er
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