Voll das Leben (German Edition)
ihn in der Not immer wieder im Stich gelassen hatte.
Ein älterer Mann sprach gerade mit einer Kundin, die ein Paket aufgab, das möglichst schnell geliefert werden sollte. Nick wartete geduldig, bis die Frau gegangen war.
„Entschuldigung, ich suche einen Ihrer Fahrer, Jan Holgert“, begann er unbehaglich. Jetzt, wo er hier war, kam ihm die Idee nicht mehr so gut vor …
„Hat er eine Lieferung beschädigt? Oder gab es Beschwerden über ihn?“, erkundigte sich der Mann im höflichsten Geschäftston.
Hastig schüttelte Nick den Kopf.
„Nein! Nein, es ist nur … Wir kennen uns und sind uns heute Nachmittag zufällig begegnet. Ich wollte ihn bloß kurz sprechen. Wissen Sie vielleicht, wo er wohnt?“
Statt zu antworten rief der Mann über die Schulter: „Dilay!“
Eine Türkin mittleren Alters erschien, grüßte höflich in Nicks Richtung und unterhielt sich kurz mit dem Mann auf Türkisch, bevor sie wieder ging.
„Mein Name ist Ferrit. Lass mich eben die Tür abschließen, dann können wir uns unterhalten.“ Er schüttelte Nick die Hand, der ihm leicht überwältigt zusah, während Ferrit leise summend abschloss und das Licht löschte. Nick wich unwillkürlich in die Helligkeit der Tür zurück, durch die diese Dilay verschwunden war. So ganz geheuer war ihm die Sache nicht … Andererseits wirkte Ferrit nicht wie ein Verbrecher, und die Angst, Jans Chef könnte ihn ausrauben oder verletzen wollen war schlicht paranoid. Oder?
Er wurde unter höflichem Geplausche über den Verkehr, die steigenden Stromkosten und die Sorgen eines selbständigen Geschäftsmannes an einem Wohnzimmer vorbeigeführt, wo sich eine Großfamilie um den Fernseher versammelt hatte. Ein würziger Geruch lag in der Luft, nach gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot. Nick bekam augenblicklich Hunger, der nur noch schlimmer wurde, als sie in einer geräumigen Küche angelangt waren. Eine Türkin servierte ihm ungefragt eine Tasse Tee und eine Schüssel mit Gebäckstücken. Sie wurde ihm als Birgül vorgestellt, schien allerdings kein Wort Deutsch zu verstehen. Dafür sprach sie in rasendem Tempo auf Ferrit ein und verschwand abrupt.
Nick versuchte Verwirrung, Nervosität und seine Abscheu gegen Schwarztee zu verbergen, was vermutlich sinnlos war. Ferrit schien ihm der Typ Mann zu sein, der jeden Menschen sofort durchschaute.
„Vor einem halben Jahr rief mich mein Schwiegersohn abends an. Er hatte gerade ein Zimmer an einen jungen Mann vermietet, der angab, obdachlos zu sein. Er hatte ganz offensichtlich noch niemals im Leben auf der Straße geschlafen und schien jenseits aller Verzweiflung zu sein. So was kommt vor.“ Ferrits stechender Blick ließ Nick erschaudern.
„Normalerweise rufen wir dann die Polizei und geben ihnen einen Tipp, wo sie den jugendlichen Ausreißer finden können, bevor der auf der Straße versackt. Aber es war nun einmal kein Jugendlicher.
Teenager laufen weg, weil sie ihre Familie nicht ertragen können oder von dieser keine Hilfe bei ihren Problemen bekommen. Wenn Erwachsene weglaufen, stecken sie entweder in mächtig großen Schwierigkeiten oder gehen am Leben selbst kaputt.
Mein Schwiegersohn hatte das Gefühl, sein Gast könnte zur letzteren Sorte gehören. Es ist schlecht für den Ruf eines Hotels – auch für speziellere Hotels –, wenn einer der Gäste in seinem Zimmer Selbstmord begeht. Daran hindern kann man sie für gewöhnlich nicht. Wir wollten abwarten, denn falls dieser Mann kein Selbstmörder sein sollte, würde er schon sehr bald in mächtig großen Schwierigkeiten stecken.“ Er lächelte knapp, trotzdem fühlte sich Nick unter Ferrits Blick schuldig. Schuldig, weil er Jan nicht geholfen hatte.
„Dein Freund war so eindeutig jemand, der aufgegeben hatte, gegen das Leben zu kämpfen. Ein kleiner Schubs auf die Straße hätte genügt, ihn kaputt zu machen. Solch hübsche junge Männer wie er sind ein gefundenes Fressen für die Aasgeier da draußen.
Nun, man kann nicht jeden retten, aber man kann es versuchen. Ich habe ihn geprüft, um sicher zu gehen. Einen Junkie oder faulen Hund hätte ich seinem Schicksal überlassen. Jan ist beides nicht, und er hat nach jedem Strohhalm geangelt, den er kriegen konnte.“
Ferrit lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Nick kritisch.
„Er ist wie ein Neffe für mich. Wir geben ihm Arbeit, ein Dach über dem Kopf und Essen, so viel er nur braucht. Er spielt mit meinen Enkeln und sitzt oft da, wo du jetzt sitzt, um mit den
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