Voll gebissen
Verblüfft drehte ich mich um.
„Kyle?!“ Ich glaube, ich klang ein bisschen zu fa ssungslos, da Kyle kurz innehielt.
„Ähm , sorry, ich wollt nicht stören“, begann er.
„Oh, nein nein!“, unterbrach ich ihn. Gut, er störte mich schon irgendwie, aber es war kein unangenehmes Stören. „Was gibt’s?“ , fragte ich so locker wie möglich.
„Hast du Lust auf nen Kaffee? Ich meine … ähm … ich möchte … momentan fälltʼs mir halt einfach schwer in der Klasse zu sitzen, wenn … weil … ach … du weißt schon …“, brach er ab. Ich nickte. Und ob ich wusste.
„Und ich möchte ungern jetzt schon nach Hause. Unsere Haushälterin ist eine alte Petze, weißt du?“ Kyle lächelte. Und zwar ziemlich süß, we nn ich das mal so sagen durfte.
„Gern “, erwiderte ich.
„Gut, warte hier. Ich hol das Auto.“
Bevor ich etwas sagen konnte, joggte Kyle von dannen und binnen fünf Minuten war er mit dem Wagen zurück. Ich stieg ein und ließ mich auf den weißen Ledersitz fallen.
Kyles Audi war noch prolliger als Liams BMW. Doch daran hatte ich mich schon gewöhnt. Für die Schnöselkinder, wie ich sie gerne nannte, war das gar nichts Besonderes und musste deshalb auch nicht entsprechend gewürdigt werden.
Kyle fuhr aus der Stadt raus und ich befürchtete, dass er mich genau zu dem Café bringen würde, wo ich mit Liam bei meinem ersten Date gewesen war, aber zum Glück tat er das nicht.
Das Cafe, in das wir gingen, war nicht halb so roma ntisch und es war auch kein Vergleich, erst mit Liam und nun mit Kyle Kaffee trinken zu gehen, doch jede Abwechslung war mir momentan willkommen. Hauptsache, ich konnte ein paar Minuten mal an etwas anderes denken, als an Liam und Amilia.
Kyl e ging voraus und ließ die Tür hinter sich zufallen, so dass ich aufpassen musste, dass sie mir nicht ins Gesicht schlug.
Gut, das war schon mal der erste Unterschied zwischen den beiden. Obwohl ich das zuerst mehr als unhöflich fand, war ich froh, dass Kyle mich nicht so behandelte, wie Liam es tat.
Das Cafe war ziemlich modern eingerichtet. Glastische, schwarze Stühle mit Eisengestell, weiße Fließen. Es tat gut, dass es ganz anders war, als d as Holzhäuschen, in das Liam mich mitgenommen hatte. Wir bestellten uns einen Kakao und unterhielten uns.
Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass man das viel besser konnte, als ich immer gedacht hatte. Kyle war nicht im Geringsten so hohl, wie ich ihn immer eingeschätzt hatte. Meine einzige Bedingung war, dass ich weder über Amilia noch über Liam sprechen wollte und schon gar nicht über beide zusammen, und Kyle war damit mehr als einverstanden. Offensichtlich hatten wir mehr gemeinsam, als ich immer gedacht hatte.
Die meiste Zeit redete sowieso Kyle und ich war froh, einfach nur dasitzen und zuhören zu können. Er erzählte von seiner Familie, was sein Dad und seine Mom arbeiteten. Wie oft sie in den Urlaub fuhren und wie wenig er sie eigentlich zu Gesicht bekam.
Auf meine Frage hin, wie seine Kindheit gewesen war, wurde seine Stimme wehmütig. Er erzählte, dass sie ihm von klein auf jeden finanziellen Wunsch von den Augen abgelesen hatten. Er brauchte wohl nur zu sagen, wenn er etwas haben wollte, und schon bekam er es.
Zuerst war ich beeindruckt, doch als ich dann die andere Seite von Kyles Leben erfuhr, war ich froh, dass meines nicht so verlaufen war. Seine Eltern waren geschäftlich viel unterwegs und eigentlich hatte ihn die Haushälterin mehr oder weniger allein aufgezogen. Sie hatten sich nie mit ihm auf die Couch gekuschelt, hatten sich keine Zeichentrickfilme mit ihm angeschaut und er hatte auch keine Bücher vorgelesen oder Geschichten erzählt bekommen. Was für eine trostlose Kindheit.
Ich fragte mich, ob das der Grund war, warum Kyle ma nchmal so war, wie er eben war.
Auf einmal sah er auf die Uhr.
„Emma?“
„Ja?“
„Danke, dass du mitgefahren bist. Es tut gut, jemanden zum Reden zu haben.“
Ich lächelte. „Jederzeit wieder.“
Und das war keine leere Floskel. Das meinte ich wir klich ernst. An dem Spruch „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ schien tatsächlich etwas dran zu sein. Wir tranken unseren Kakao leer und machten uns auf den Heimweg. Kyle hatte die Befürchtung, dass die Putzfrau sonst doch noch Verdacht schöpfte und seinem Dad erzählte, dass er die Schule geschwänzt hatte.
Zuerst war ich ein wenig verwundert. Schließlich gab Kyle sich immer so, als wär e er über alles erhaben und jeder könnte ihn am
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